Wie viele Tage waren vergangen, seit er Anfang August so in Eile Abschied von Elizabeth Bennet genommen hatte? Fitzwilliam Darcy wusste es nicht genau. Er hatte es aufgegeben, zu zählen. Dies hatte er lange genug praktiziert, es hatte ihm stets nur Schmerz bereitet.
Und bei ihrem Besuch auf Pemberley hatte sich alles so gut und richtig angefühlt. Er war fast auf Wolken geschwebt, damals. Dann war der Brief mit dem unheilvollen Inhalt angekommen. Und von einer Sekunde auf die andere war nichts mehr schön, harmonisch, erfüllt von einem liebevollen Miteinander gewesen. Wickhams böse Handschrift hatte das glückliche Bild schlagartig zerstört.
Ja, er war dem flüchtigen Paar Wickham und Lydia unverzüglich nach London nachgereist. Er hatte sich an deren Fersen geheftet und war ihnen schließlich, glücklicher Fügungen sei Dank, auf die Schliche gekommen. Aber er hatte es still und heimlich getan, nur getrieben von dem Gedanken, dass kein Makel auf Elizabeth und ihre Familie fallen durfte. Außer den Gardiners und dem jungen Paar selbst wusste niemand etwas von seiner Intervention. Und er hatte sie alle verpflichtet, darüber Stillschweigen zu bewahren. Warum? Ja, es war nicht einmal einfach, sich diese Frage selbst zu beantworten.
Es schlugen oftmals dann zwei Herzen in seiner Brust. In einer Hinsicht wollte er, dass seine Fürsprache, sein Einmischen in diese Angelegenheit niemals bei weiteren Personen zur Sprache kommen würde. Er hatte die Unannehmlichkeiten für Elizabeth auf sich genommen, wollte aber keinen wohlgemeinten Dank, weder von ihr noch von ihrer Familie. Er wollte mehr, einiges mehr als Dank und das war sie anscheinend nicht bereit zu geben, also fand er sich eben damit ab.
Andererseits - und das war die Stimme in seinem Kopf, die er am liebsten sofort in die Flucht schlagen wollte, wann immer sie auftauchte - stellte er sich hin und wieder vor, wie ihm Elizabeth Bennet aus mehr als aus Dankbarkeit in die Arme sinken würde. Nein, das war völlig absurd, dies würde nie geschehen! Er selbst hatte sich diesen Weg verbeten. Blieb nur zu hoffen, dass alle Mitwisser sich an das von ihm gebotene Stillschweigen hielten.
Er hatte Miss Bennet damals in Lambton in einem Zustand der Verzweiflung zurück gelassen, er hatte sich an diesem Abend weder förmlich verabschiedet noch ihr Hoffnung auf ein glückliches Ende der Misere gemacht. Sie musste also annehmen, dass er sich für immer von ihr, ihren Problemen und ihren Verwandten zurückgezogen hatte.
Aber hatte sie nicht selbst das kleine, schmale Band, das sie zu diesem Zeitpunkt verbunden hatte, mit zerschnitten? Kein Mann von Anstand und Ehre würde sich – wären Lydia und ihr Geliebter tatsächlich unauffindbar geblieben – mehr in die Nähe der Bennet-Familie begeben. So musste Elizabeth Bennet doch gedacht haben. Und das schloss ihn – Fitzwilliam Darcy – als Allerersten ein. Sie hatte sich, ihre Schwestern, Vater und Mutter von da an als gesellschaftlich indiskutabel angesehen. Und sie nahm wohl an, dass er die Sache genauso betrachtete.
Sie hatte damals im Gasthof in Lambton wortwörtlich gesagt: „Ich denke, es ist zu spät, Sir.“
Das war eine dezente Aufforderung an ihn gewesen, sich zurückzuziehen. Der Schnitt von ihrer Seite. Und er war gegangen, ohne ein weiteres Wort. Der Schnitt von seiner Seite.
Er seufzte. Dann blickte er auf die Tageszeitung auf seinem Schreibtisch. Dort fand er die Vermählungsanzeige von Wickham und Lydia. Er zog seine linke Augenbraue in leichter Resignation etwas nach oben und schob das Blatt ein Stück von sich. Inzwischen dürften die beiden Frischvermählten in Longbourn angekommen sein.
Er fragte sich, wie wohl der Empfang dort für das Brautpaar ausfallen würde. Er konnte es sich förmlich ausmalen. Wickham würde versuchen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und sich wahrscheinlich, trotz aller Vorkommnisse, bei seiner Schwiegermutter erfolgreich einschmeicheln. Mr. Bennet würde nicht so leicht zu täuschen sein, schätzte Fitzwilliam Darcy. Ihn konnte man nicht blenden. Er durchschaute die Menschen wohl recht schnell. Lydia würde vermutlich den ganzen Tag nur über die Zeit in London, die Hochzeit, ihr Kleid, ihren Ring und – ach ja - ihren guten Wickham plappern. Sie war wohl noch sehr jung, was aber kaum zu ihrer Entschuldigung gereichte.
Elizabeth, so hoffte er, würde ihrem Vater nicht nachstehen und Wickham bestimmt die kalte Schulter zeigen. Oh ja, das hoffte er sehr sogar. Die restlichen Schwestern würden das Ereignis sicher ihren Charakterzügen entsprechend verschieden aufnehmen. Jane würde sehr ruhig und gelassen bleiben und sich von den Dingen nicht sonderlich beeindrucken lassen. Mary würde sicherlich eine Art Gleichgültigkeit ob der Hochzeit an den Tag legen. Und Kitty, nun sie stand Lydia schon immer sehr nahe, sie würde sich bestimmt ein wenig von der Aufregung im Haus mitreißen lassen. Aber vielleicht gelang es ihr ja auch, durch die Umstände der Heirat ein wenig Abstand zwischen sich und Lydia zu legen. Er wünschte es Kitty jedenfalls.
Hin und wieder war Fitzwilliam Darcy bei den Gardiners zum Dinner eingeladen gewesen. Er wusste, dass auch dies eine Art war, Dankbarkeit ihm gegenüber zu bezeugen, er wollte es zwar nicht, aber weder Edward Gardiner noch seine Frau ließen da Einwände gelten. So lange er in London weilte, war er somit einige Male bei ihnen zu Gast gewesen. Nur sprachen sie an diesen Abenden nicht mehr über das Vorgefallene. Er hatte einmal deutlich gemacht, dass er keinerlei Aufhebens um die Angelegenheit mehr wünschte, und daran hielten sich die Gardiners auch. Die Abende waren stets sehr kurzweilig und für ihn eine liebenswerte Unterbrechung seiner täglichen Routine in London.
Es war ihm allemal lieber, als abends im Club die unvermeidbaren Kartenspiele mit immer den gleichen Herren zu absolvieren oder alleine in der Oper zu sitzen. Bingley war nämlich mit seinen beiden Schwestern nicht in der Stadt, er hatte Caroline und Louisa - diese ohne ihren Gatten - zu einer kleinen Sommerfrische nach Bath begleitet. Und Cousin Montgomery Fitzwilliam trieb sich Gott weiß wo herum. Im Ausland, so hörte er munkeln.
So war es mittlerweile September geworden. Der Butler hatte gerade das Feuer in der Bibliothek entfacht, und Fitzwilliam Darcy überlegte im gleichen Augenblick, ob es nun nicht besser sei, die Herbsttage auf Pemberley zu verbringen, als plötzlich ein Luftzug durch den Raum wehte und ein Besucher vor ihm stand.
„Charles“, rief er erfreut, „wie schön, dich zu sehen!“
Charles Bingley reichte dem Butler seinen Mantel und Zylinder und ging auf seinen Freund zu.
„Nun, mir geht es ganz genauso. Meiner Treu, es war recht anstrengend mit den beiden Damen in Bath, das kann ich dir sagen.“
Er lachte trocken. Dann nahm er das Glas mit Brandy, welches ihm von Fitzwilliam Darcy gereicht wurde. Er trank einen großen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
Dann sprach er weiter: „Was machst du eigentlich noch hier, wäre es nicht längst an der Zeit aufs Land zu fahren? Die Jagdsaison hat begonnen, nicht wahr?“
Fitzwilliam Darcy nickte. „Ja, ich habe soeben gerade überlegt, wann ich nach Pemberley abreisen soll.“
„Pemberley, ach was“, wehrte Charles Bingley mit einer Handbewegung ab „du hast genug Leute dort, die sich um alles kümmern. Deine Anwesenheit ist da sicher nicht vonnöten. Nein, ich wollte fragen, ob du mit mir nach Netherfield kommst, damit wir dort den Wildbestand regulieren, du weißt, ich habe in Hertfordshire keinen Jagdaufseher oder Verwalter, der mir solche Dinge abnehmen würde.“
Fitzwilliam Darcy klammerte sich so fest an sein Glas, dass die Knöchel der Finger weiß hervortraten. Dass das Glas nicht in seiner Hand zersprang, grenzte an ein Wunder.
Er schüttelte den Kopf: „Nein, Charles, das geht nicht, ich habe meine Pflichten auf Pemberley schon zu lange vernachlässigt. Ich bin bereits seit vielen Wochen hier in London. Für mich wird es Zeit, nach Hause zurück zu kehren. Wirklich.“
Charles Bingley beugte sich ein wenig aus seinem Sessel vor zu ihm: „Komm schon, wir beide fahren alleine, ohne Caroline, ja?“
Sein Drängen hatte ein erneutes Kopfschütteln seines Gegenübers zur Folge.
„Fitzwilliam, ich muss auf alle Fälle dorthin und sei es nur, um den Haushalt aufzulösen, die Jagden noch ordnungsgemäß durchzuführen und eventuell einen neuen Pächter für das Anwesen zu finden. Ich verspreche, dass ich dich dann nicht mehr mit dem Thema Netherfield behelligen werde. Aber alleine ist das nicht zu schaffen, ich brauche dich dort!“
Er sah seinen Freund flehentlich an.
Für einen kleinen Augenblick schloss Fitzwilliam Darcy gequält die Augen. Er wollte nicht nach Netherfield – aber gleichzeitig zog es ihn wie mit einem Magneten trotzdem dorthin. Es würde keinen Ausweg geben, er musste sich der Situation stellen. Besser jetzt als später. Also gut… er öffnete die Augen wieder und sah Charles Bingley an, der ihm erwartungsvoll entgegen blickte.
„Gut, überredet. Wann fahren wir?“
Bingley gab ein breites Grinsen von sich und antwortete zufrieden: „Hmh, ich dachte übermorgen früh. Wäre es dir recht?“
Diesmal nickte sein Gegenüber.
Die ganze Nacht über rebellierte sein Magen. Fitzwilliam Darcy hatte weder etwas Unrechtes gegessen, noch einen Brandy zu viel über den Durst getrunken. Er konnte sich kaum erinnern, dass ihm jemals - ja zugegeben, als er ein- oder zweimal völlig betrunken war, aber auch das war schon lange Zeit her - so speiübel gewesen war. Das würde eine schöne Fahrt geben am kommenden Tag.
Doch instinktiv wusste er, was ihm diese elende Übelkeit bescherte: Der Gedanke, Elizabeth Bennet wieder nah zu sein, sie mit großer Wahrscheinlichkeit wieder zu sehen. Er fürchtete sich vor diesem Moment. Wie sollte er ihr gegenüber treten? Was sagen? Was tun? Wie sich verhalten? Wie würde er überhaupt empfangen werden? Oder war Charles womöglich gar nicht daran interessiert, den Bennets die Aufwartung zu machen? Dieser wusste nichts von den Umständen von Lydias Vermählung, obwohl er die Anzeige in der Zeitung gelesen hatte, denn sie hatten am Abend noch kurz darüber gesprochen. Als sich Fitzwilliam Darcy aber mit jeglichem Kommentar über Mr. und Mrs. Wickham zurückgehalten hatte, war auch Bingley nicht mehr näher darauf eingegangen.