Es tat sich – nichts. Als sich ihre Augen wieder öffneten, hatte er ihre Hände losgelassen, stand ein kurzes Stück entfernt von ihr und starrte ins schwarze Seewasser.
„Miss Bennet“, seine Stimme klang merkwürdig fremd „ich denke, wir sollten die anderen nicht warten lassen. Wenn wir noch zum Haus zurückfahren wollen und dann nach Lambton, müssen wir uns wirklich langsam schicken.“
Sie konnte nur schwach nicken und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm war, nahm er zwar wieder ihren Ellbogen als Vorsichtsmaßnahme, aber er blickte nun zu Boden und sah nicht mehr mit seinen feurigen Augen - wie konnte ein eigentlich kaltes Blau nur so voller Glut stecken, fragte sie sich da gerade - hinüber zu ihr.
Auch Georgiana und die Gardiners hatten sich mittlerweile erhoben und sahen dem zurückkehrenden Paar entgegen. Aber niemand stellte eine Frage. Also stiegen alle in die Kutsche, Mr. Darcy auf sein Pferd, und machten sich auf den Rückweg nach Pemberley. Der Proviantwagen folgte mit einigem Abstand, man musste die Fische, darunter mehrere Forellen, zwei Karpfen und einen Hecht, dann sowieso noch umladen.
Georgiana und Mr. Darcy entstiegen der Kutsche im Ehrenhof von Pemberley. Georgiana verabschiedete sich von den Gästen, wünschte eine gute Nacht und gute Weiterfahrt nach Lambton. Mr. Darcy hastete nur schnell ins Haus, um die Hose zu wechseln. Währenddessen erschienen weitere Dienstboten, um den Versorgungswagen zu entladen und die Holzkiste mit den Fischen fachgerecht an der wartenden Kutsche zu befestigen.
Nach einer knappen Viertelstunde, die Arbeiten waren alle erledigt, erschien Fitzwilliam Darcy umgezogen wieder und stieg jetzt auch in die Kutsche. Er setzte sich auf den Platz seiner Schwester, die ja nicht mehr mitfuhr, direkt neben Miss Bennet. Die Fahrt würde zwar nicht lange gehen, aber man hatte vorsorglich Decken über die Fahrgäste gebreitet, weil es nun in der Nacht doch empfindlich kühl geworden war.
Als die Kutsche rumpelnd anfuhr und dabei eine kleine Unebenheit in der Ausfahrt des Hofes passierte, wurde Elizabeth gegen die Schulter von Mr. Darcy gedrückt. Sie bemühte sich sonderbarerweise nicht, sich wieder gerade hinzusetzen. Mr. Gardiner erklärte nun schon zum wiederholten Male, dass er gedenke, die Fische dem Gasthaus in Lambton zu überlassen. Natürlich musste man sie ihm und seinen Mitreisenden dann morgen entsprechend zubereiten. Vielleicht nicht alle, aber eine Forelle für jeden und vielleicht noch einen Karpfen. Nun ja, das würde sich weisen.
Sie waren noch nicht sehr lange unterwegs, als der Mond endlich über ihnen am Himmel zu sehen war. Die Gardiners waren sichtlich müde, und es dauerte nur noch wenige Minuten, dann waren beide eingenickt. Mr. Darcy sah Miss Bennet von der Seite an. Sie blickte nach vorn auf den Weg. Er atmete einmal tief aus. Dann schob er seine rechte Hand unter der wärmenden Decke ein Stück in ihre Richtung. Noch ein paar Inches. Und noch ein winziges Stück. Sie zuckte zusammen, als er ihre Hand berührte, es sogar wagte, sie festzuhalten. Sie machte ihre Augen für einen Augenblick zu. Als sie seine Stimme hörte, öffnete sie die Augen wieder.
Leise stellte er fest: „Es ist sehr schade, dass dieser Tag nun zu Ende geht, finden Sie nicht auch?“
Sie nickte nur, unfähig auch nur einen Ton von sich zu geben, da sie beständig die Wärme seiner Hand in der ihren spürte.
Er gab sich einen Ruck und wollte eine Frage stellen: „Miss Bennet, dürfte ich Sie bitten… ich meine, würden Sie in Erwägung ziehen…“, weiter kam er nicht, denn sie, als hätte sie geahnt was kommen würde, unterbrach seine Ansprache sofort.
„Sir“, sie entzog ihm jedoch nicht ihre Hand, im Gegenteil, wie zum Trost legte sie ihre andere, noch freie Hand zusätzlich oben drauf, „es war in der Tat einer der schönsten Nachmittage und Abende, die ich jemals verbracht habe, aber lassen Sie uns das wundervolle Stimmungsbild nicht durch unüberlegtes Handeln trüben, ich bitte Sie.“
Als er sie daraufhin mit einem melancholischen Blick bedachte, fügte sie hinzu: „Es ist ja doch einiges geschehen hier und heute, worüber ich einfach eine Weile nachdenken muss, das werden Sie sicher verstehen und vielleicht ist es auch Ihr Wunsch, Ihre Gedanken und…“, hier zögerte sie, sprach es dann aber doch aus, „ähm, Gefühle neu einzuordnen und zu sortieren. Lassen Sie mir und auch Ihnen ein bisschen Zeit, um mehr bitte ich Sie nicht!“
Er nickte, langsam und zögerlich. Aber im Prinzip hatte sie natürlich Recht, es durfte nichts überstürzt werden. Was aus überhasteten Handlungen resultierte, hatte er bereits in der Vergangenheit zur Genüge erfahren.
Die Ortschaft kam allmählich in Sichtweite. Er konnte es sich jedoch nicht verkneifen, mit dem Daumen ganz zart über ihre Hand zu streichen, dann zog er diese unter der Decke hervor und küsste sehr bedächtig aber intensiv erst die Außenseite, drehte die Hand dann rasch um und platzierte einen sehr erregenden Kuss auf der Handinnenfläche. Die Augenlider von Miss Bennet fingen an zu flattern. Er lächelte, als er diese Reaktion von ihr sah. Sein Herz wurde sehr leicht, er hätte jubeln mögen.
Er deckte seine und ihre Hand, die er noch immer nicht losließ, wieder sorgfältig mit der Decke zu. Sie blickte ihn mit großen Augen und halboffenem Mund an. Ein kurzer Blick von ihm auf die schlafenden Gardiners, dann führte er zwei Finger seiner linken Hand an seinen Mund, küsste diese und legte beide Finger dann auf ihre Lippen. Sie blickte ihn wie in Trance an, als sie einen Kuss darauf hauchte. Sie konnte es nicht fassen! Sie hatte sich in ihn verliebt! Es durchfuhr sie wie ein Blitz. Genau so war es. Sie hätte sich am liebsten sofort in seine Arme geworfen, aber sie ließ gerade noch Vernunft walten.
Der Kutscher zügelte die Pferde, wovon Mr. und Mrs. Gardiner erwachten. Da kam die Kutsche vor dem Inn zum Stehen. Bedauernd ließ Mr. Darcy unter der Decke die Hand von Elizabeth los und stieg aus, um ihr dann aus dem Gefährt zu helfen. Sie war völlig durcheinander. Nur eines wusste sie gewiss: Wäre die Fahrt noch eine halbe Meile oder weiter gegangen, hätte sie wahrscheinlich kaum mehr gezögert, sich von ihm richtig küssen zu lassen. Und er hätte vermutlich sich auch nicht mehr abhalten lassen, ihr erneut einen Antrag zu machen, wie es vorhin ja offensichtlich schon einmal in seiner Absicht gelegen hatte. Dann wären sie verlobt gewesen! Elizabeth wusste nicht, ob sie dankbar sein sollte, dass der Weg nicht länger war oder diese Tatsache zutiefst bedauern sollte.
Im Gasthaus angekommen, bedankte sich Mr. Gardiner noch einmal überschwänglich für die nette Gesellschaft und die Fische. Dann kam ein Mädchen auf Miss Bennet zu und überreichte ihr einen Brief.
„Oh, er ist von Jane“, rief sie freudig aus.
Mr. Darcy hatte seinem Kutscher ein Ale versprochen und orderte dies einstweilen für den guten Mann.
Zwischenzeitlich hatte Elizabeth den Brief aufgerissen und überflog ihn. Er sah sofort, wie sie leichenblass wurde und entsetzt aufstöhnte. Dann rannte sie mit gerafftem Rock davon. Er war vollkommen geschockt, es musste eine wahre Hiobsbotschaft sich in dem Brief befunden haben. Er eilte zusammen mit den Gardiners hinter Miss Bennet her, zutiefst besorgt um sie. Sie fanden sie in den von ihnen angemieteten Gemächern. Mit Tränen auf den Wangen und unterdrücktem Schluchzen kam sie auf ihre Verwandten und Mr. Darcy zu. Nach einigen vergeblichen Ansätzen fand sie dann endlich den Mut, über den erschreckenden Inhalt des Briefes zu berichten.
Alle waren sprachlos vor Entsetzen. Mr. Darcy ballte eine Hand zur Faust in unaussprechlicher Wut auf diesen elenden Schuft von Wickham. Der Kerl tauchte immer in den unmöglichsten Situationen, zu den undenkbarsten Gelegenheiten auf und zerstörte alles, wirklich auch alles, was gerade vorhanden war. Seine Versöhnung mit Miss Bennet, die fast schon greifbar gewesene Verlobung mit ihr – mit einem Schlag alles in weite Ferne gerückt.
Er hörte sich murmelnd fragen, ob er ihr denn noch behilflich sein könne.
Doch ihre unter Weinen vorgebrachte Antwort war eher dazu geeignet, auch das letzte Fünkchen Hoffnung zu ersticken: „Ich denke, es ist zu spät, Sir.“
In diesem Moment stand sein Entschluss felsenfest. Er würde sie nicht noch einmal verlieren. Diesmal würde er bis zum letzten Atemzug um sie kämpfen und er wusste auch schon, wo er anfangen würde. Bei Wickham! In äußerster Eile verbeugte er sich knapp und rauschte aus dem Zimmer.
Er wusste, dass er keinen galanten Abschied hingelegt hatte, aber für das was er vorhatte, war nicht eine Sekunde Zeit zu verlieren. Im Schankraum riss er den Kutscher unsanft vom Stuhl, warf dem Wirt eine Münze hin und gab dem seinem Bediensteten im Hinausgehen nur eine knapp gehaltene Erklärung ab. Auf dem Rückweg nach Pemberley entschuldigte er sich bei dem armen Kutscher jedoch für den ruppigen Aufbruch aus dem Inn. Dann gab er sich wieder seinen Gedanken hin, rasch hatte er bereits einen ersten Plan ausgearbeitet.
In Pemberley ließ er sofort Mrs. Reynolds die betreffende Dienerschaft wecken, es musste gepackt und die bequeme Reisekutsche fertig gemacht und angespannt werden. Georgiana kam ihm mit fragendem Blick entgegen. Er zog sie schnell aus der Halle in den Salon, schloss die Tür. Er hielt sie mit Bestimmtheit, aber nicht grob an den Handgelenken fest.
„Was um Himmels willen ist denn los, Fitzwilliam?“ fragte sie. „Ist etwas mit Miss Bennet, hast du deswegen den halben Haushalt aufgescheucht?“
„Über den heutigen Nachmittag und Abend sprechen wir bei anderer Gelegenheit“, versuchte Fitzwilliam Darcy streng mit seiner Schwester zu sein, was ihm trotz der üblen anderen Nachricht, die weiterhin sein Denken bestimmte, aber nicht ganz gelang, „ich muss nämlich dringend und sofort nach London!“
Er wollte schon die Tür aufreißen und rausstürmen, aber Georgiana hielt ihn schnell am Ärmel fest.
„Bitte, sag mir, was geschehen ist und vor allen Dingen, wie du mit Miss Bennet verblieben bist.“
„Ich kann dir gerne mitteilen, wie ich mit Miss Bennet verblieben bin, da du sowieso nicht eher Ruhe gibst“, antwortete er schnell. „Also, um es kurz zu machen, mir läuft nämlich die Zeit weg, ich habe alles auf eine Karte gesetzt, hätte auch fast gewonnen, aber in letzter Minute hat ein anderer einen äußerst fragwürdigen Trumpf ausgespielt und damit das ganze Spiel zerstört. Genügt das an Information, Miss Naseweis?“
„Nur eine Frage noch, Bruder. Wer hat falsch gespielt? Da komme ich nicht ganz mit. Und verstehe ich richtig, dass du dich Miss Bennet gegenüber erklärt hast?“
Ihr Bruder blickte zur Salondecke.
„Nein, ich habe ihr keinen Antrag gemacht, aber es war kurz davor. Wäre das andere Ereignis nicht eingetreten, wäre es vielleicht noch dazu gekommen. Es spielt auch keine Rolle jetzt, egal. Und ich bitte dich, Georgiana, reg dich jetzt nicht auf, aber da du es ja unbedingt wissen willst: Dieser Dreckskerl – entschuldige bitte, aber ich kann mich diesbezüglich wahrlich nicht beherrschen – also, dieser Schuft von Wickham hat ihre jüngste Schwester aus Brighton mit nach London genommen und… ach was, ich kann dich auf ewig schonen - er hat sie entehrt!“
Georgiana sank auf einen Stuhl neben der Tür.
„Mein Gott, jetzt verstehe ich deine Aufgebrachtheit. Was wirst du in London tun?“
„Was wohl“, entgegnete er knapp, halb schon in der offenen Tür stehend, „ich werde ihn finden, oh ja, bei Gott das werde ich und dann gnade ihm Gott! Ich werde ihn dazu bringen, Lydia zu heiraten, damit die Schande und der Skandal für die Bennets so gering wie möglich gehalten werden kann.“
Georgiana schickte ihrem Bruder einen letzten, faszinierten Blick hinterher.
„Du muss Elizabeth wirklich sehr lieben.“
Er zeigte sein Gesicht noch einmal im Türrahmen.
„Mehr als mein Leben“, antwortete er schlicht und verschwand.
Georgiana brach in Tränen aus, teils aus Schock über das ihr soeben Offenbarte, aber zum allergrößten Teil aus Freude, aus sehr, sehr großer Freude.