Er war in den nächsten Tagen schier unerträglich für die anderen. Selbst Miss Bingley wagte es kaum noch, eine ironische Bemerkung in seine Richtung abzugeben. Die Jagden boykottierte er, entschuldigte sich mit der fadenscheinigen Ausrede, er habe enorm viele geschäftliche Briefe zu schreiben. Während Charles die letzten schönen Herbsttage fast komplett im Freien verbrachte, hockte Fitzwilliam Darcy mit melancholischem Blick in der Netherfield’schen Bibliothek, ein Buch in Händen, dessen Seiten er im Verlauf von ein oder zwei Stunden keine drei Mal umblätterte. Aber er ritt aus, meistens einmal täglich, wenigstens für jeweils eine halbe Stunde.
Fitzwilliam Darcys Gedanken waren ständig nur mit einem Thema befasst: Wie hatte es ihm nur passieren können, dass er sich in Elizabeth Bennet verliebt hatte? Er wusste ganz genau, dass dies ein Unterfangen ohne Aussicht auf einen glücklichen Ausgang war. Was würde seine Familie dazu sagen, wenn er sie heiraten würde?
Nein, das ging natürlich nicht, diese Frage stellte sich erst gar nicht. Völlig indiskutabel. Was seine Tante in vorwurfsvollen Tönen zu diesem Thema von sich geben würde, klang ihm jetzt schon in den Ohren, sie würde ihn nie wieder auch nur eines Blickes würdigen. Und sein Onkel, der Earl, ach du liebe Zeit, nein, daran durfte er überhaupt nicht denken. Selbst wenn - er gestattete sich nur ungern, seine Gedanken so weit vorpreschen zu lassen - seine Familie sich diesbezüglich zurückhalten würde, was aber noch unwahrscheinlicher als ein großer Lotteriegewinn war, war da noch immer ihre Familie.
War dies nicht eigentlich ein noch größeres Hindernis? Gut, er kannte sie nicht sehr gut, die Bennet-Familie, sie waren erst zweimal aufeinander getroffen, aber er hatte nun mal eine große Abneigung gegenüber Mrs. Bennet und den jüngeren Schwestern von Elizabeth. Es war nur zu offensichtlich, dass Mrs. Bennet überaus bestrebt war, ihre Töchter vorteilhaft zu verheiraten und dazu war ihr wohl jedes Mittel recht. Dass sie in diesem Bestreben oftmals über das Ziel hinausschoss, schien der guten Frau leider nicht bewusst zu sein. Die drei Mädchen hingegen – wie waren noch mal ihre Namen? - waren vorlaut, ungebildet, albern und ohne jeden Anstand. Irgendwie schienen für ihn die Damen Jane und vor allem Elizabeth nicht in dieses Schema zu passen. Sie waren eher das genaue Gegenteil davon. Er schüttelte sorgenvoll den Kopf. Er würde bei all der Grübelei noch Schaden nehmen.
Er war deswegen auch nicht böse, als Charles ihn eines Mittags fragte, ob er mit ihm zusammen ausreiten wolle. Fitzwilliam Darcy fand, es wurde Zeit, langsam wieder ins Leben hier auf Netherfield zurückzukehren. Zum Teufel mit Elizabeth Bennet! Auch wenn sie ihm einige schlaflose Nächte bereitet hatte, jetzt musste Schluss mit diesen liebeskranken Wahnvorstellungen sein! Er schwang sich mit Elan auf sein Pferd und schloss sich Charles Bingley an. Sie ritten eine Weile schweigend nebeneinander her, dann kam ein bisschen Konversation auf. Es waren ja seit kurzem Soldaten hier in Meryton stationiert und der Kommandeur, Colonel Forster, hatte bereits einige Male mit den Herren diniert, bei dieser Gelegenheit hatten sie auch dessen junge Frau, Mrs. Forster, kennen gelernt. Also redeten sie zunächst über dieses Thema.
Dann blickte Bingley strahlend Fitzwilliam Darcy an und sagte gutgelaunt: „Ach, wenn wir schon in diese Richtung reiten, dann können wir doch einen kleinen Abstecher nach Longbourn machen, nicht wahr?“
Der so Angesprochene wäre beinahe vor Schreck aus dem Sattel gekippt. Oh nein, er hatte gerade angefangen, sich Miss Elizabeth aus dem Kopf zu schlagen. Es hätte auch fast funktioniert, aber nun kam dieser elende Vorschlag seines Freundes und machte alles wieder zunichte. Er konnte keinen plausiblen Grund anführen - ohne sich verdächtig zu machen - warum sie beide nicht nach Longbourn reiten sollten, also schwieg er.
Aber es kam mit einem Mal ganz anders. Als sie etwas mehr als den halben Weg zurückgelegt hatten, erklang auf ein Mal Gelächter auf der anderen Seite des kleinen Flüsschens. Ein Grüppchen, zu Fuß unterwegs, kam langsam in Sichtweite.
Da hörten die beiden Männer auch schon Jane Bennets Stimme: „Schaut, da ist Mr. Bingley!“
Als die Gruppe hinter den Bäumen besser sichtbar wurde, war es Fitzwilliam Darcy, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen spazierte Elizabeth Bennet einträchtig Seite an Seite mit einem Offizier umher. Und dieser Offizier war niemand geringerer als – George Wickham!
Die Bennet-Mädchen sprangen um ihn herum wie kleine Lämmchen. Bingley schien sich darüber sogar köstlich zu amüsieren. Er lachte mit ihnen quasi um die Wette, nun ja, Jane Bennet war dabei und schien wirklich völlig erholt von ihrer Krankheit. Fitzwilliam Darcy schenkte Wickham einen absolut vernichtenden Blick und wendete abrupt sein Pferd. Ohne ein Wort zu verlieren, galoppierte er Richtung Netherfield davon. Bingley blieb nur noch, sich schnellstens von den Damen zu verabschieden und ihm verdattert hinterher zu sprengen.
Es kostete ihn sichtlich Mühe die Tränen der Wut und der Enttäuschung zurückzuhalten. Bei Gott, er wusste nicht, wann er das letzte Mal geweint hatte, das war entgegen seiner Art, aber nun war es beinahe soweit. Der Traum letzthin kam ihm sofort wieder in Erinnerung. Als hätte er es geahnt! Auf Netherfield atemlos angekommen, sprang er in äußerster Erregung vom Pferd, ließ einen verwirrten Charles Bingley auf dem Kies des Hofes stehen und verschwand kommentarlos im Haus.
Oh, wie er wünschte, er hätte diesen Kerl nie wieder erblicken müssen. Warum konnte sich der Erdboden nicht auftun und Wickham mitsamt seinen unehrenhaften Absichten verschlingen? Dass er ausgerechnet hier auf den Plan trat, war wirklich ein Fluch des Schicksals. Elizabeth Bennet hatte wie entrückt gelächelt, fast die ganze Zeit. Ja wahrlich, Wickham war Meister im Täuschen und Vortäuschen. Neue Bekanntschaften zu knüpfen und sich bei diesen ins rechte Licht zu rücken gehörte zu seinen Spezialitäten. Fitzwilliam Darcy hatte seither noch niemals Grund gehabt, auf irgendetwas oder irgendjemanden eifersüchtig zu sein, aber nun spürte er, wie dieses Gefühl in ihm hoch kochte. Er würde viel dafür geben, wenn Elizabeth Bennet ihn einmal so bedeutungsvoll anlächeln würde. Aber die Blicke, die sie ihm bisher zugeworfen hatte, waren entweder vorwurfsvoll, oder ungnädig bis unangenehm berührt, hie und da etwas überrascht und letzthin in der Küche wohl auch mal leicht besorgt und mitleidig. Mehr jedoch hatte er bislang ihren Augen nicht entnehmen können.
Beim Tee kam natürlich Charles auf den Vorfall vom Mittag zu sprechen. Glücklicherweise war seine Schwester nicht anwesend, sie hatte Vorbereitungen für den Ball zu treffen und war nicht im Haus. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als Charles einen kurzen Abriss seiner Verbindung zu Wickham zu geben. Dieser war doch überrascht, als er hörte, dass der Offizier sich nicht gerade vorbildlich in allen Lebenslagen verhalten hatte. Aber er billigte Fitzwilliam Darcy natürlich zu, dass dies alles allein seine Angelegenheit sei, und er sich da kein Urteil erlauben würde.
Er bot ihm lediglich an, die Einladung für den Ball nicht auf Wickham auszudehnen. Doch der winkte ab, er sollte ruhig Wickham auch einladen, es würde bestimmt keinen guten Eindruck machen, wenn ein Offizier von der Veranstaltung ausgeschlossen würde. Er schätzte, Wickham würde die Begegnung mit ihm wahrscheinlich eh scheuen. Oder vielleicht auch nicht? Vielleicht würde er wegen Elizabeth kommen, dann erst recht? Das wäre… das wäre unerträglich. Der Gedanke daran bescherte ihm wieder eine schlaflose Nacht. Und es war keine Elizabeth Bennet da, um mit ihm in der Küche zu sitzen und ihm einen Schlaftrunk zu reichen.
Am nächsten Morgen war er so müde, dass er beim Ausreiten für einen Moment nicht konzentriert genug war und von einem tief hängenden Ast vom Pferd gehauen wurde. Außer einigen schmerzhaften Prellungen war ihm zwar nichts geschehen, aber es ärgerte ihn natürlich massiv, dass solche Dinge geschehen konnten, weil er ständig in Gedanken mit ihr beschäftigt war, beziehungsweise diese Situation ihn kaum noch zur Ruhe kommen ließ. Er humpelte ins Haus und begab sich auf sein Zimmer. Ausgezogen stellte er fest, dass er am linken Oberschenkel - nun ja genau betrachtet, war es fast schon nicht mehr der Oberschenkel, sondern eher das… hmh… Gesäß - einen beträchtlichen Bluterguss hatte. Liebe Güte, so etwas war ihm seit Kindertagen nicht mehr passiert.
Er wusste nicht, wie man eine derartige Verletzung behandeln sollte. Aber ein heißes Bad kam ihm instinktiv nicht als das richtige Mittel vor. Er seufzte. Miss Bennet hätte nun sicher gewusst, was zu tun wäre. Würde er sich Miss Bingley anvertrauen, würde er nur Hohn und Spott für sein reiterliches Missgeschick ernten. Das kam also nicht in Frage. Charles war gerade nicht da und darüber hinaus bestimmt nicht der kompetente Ratgeber in derlei Dingen. Würde er sich an die Haushälterin wenden, konnte er sich nicht sicher sein, ob nicht darüber getratscht würde und dann käme es doch Caroline Bingley zu Ohren. Er überlegte krampfhaft. Der Ball war in drei Tagen, es konnte nicht sein, dass er da herumhumpelte. Also musste die Verletzung jetzt gleich behandelt werden, sonst konnte er sich den Tanz mit Elizabeth Bennet gleich gänzlich versagen.
Er zog sich wieder seine Hose über und stapfte steif zum Stall. Er hatte Glück. Der Stallbursche, der wirklich großartig mit den Pferden umzugehen verstand, wusste gleich, was benötigt wurde. Er solle kalte Kompressen machen, mit so eiskaltem Wasser wie möglich. Außerdem gab er ihm einen Tiegel mit Salbe mit, die ihm wohl seine Mutter angerührt hatte. Die Masse roch ziemlich unangenehm, würde aber angeblich Wunder bewirken. Fitzwilliam Darcy fragte erst gar nicht nach der Zusammensetzung, es war ihm alles schon peinlich genug. Er knurrte ein Dankeschön in Richtung des Stallknechtes und ging wieder zurück auf sein Zimmer, nicht ohne vorher noch einen Krug mit eiskaltem Brunnenwasser mitgenommen zu haben. Dass der Stallknecht nichts ausplaudern würde, hatte er wohlweislich mit einer recht großzügig bemessenen Münzgabe sichergestellt.
Nun ging es mit Riesenschritten auf den Ball zu. Das Haus wurde von Tag zu Tag unruhiger. Lieferanten kamen und gingen, mit Blumen, mit Lebensmitteln, mit Getränken, mit Stoffen und dergleichen. In der Küche und dem Keller herrschte ständig Hochbetrieb. Die normale Versorgung der Bewohner von Netherfield war etwas zurückgeschraubt worden, wegen der Bedürfnisse, die der Ball an alle Angestellten stellte. Nicht dass man kein Frühstück oder dergleichen mehr servierte, aber statt vier Sorten Konfitüre gab es nur noch zwei, und zum Tee wurden nicht mehr unzählige Sorten von süßen Törtchen, sondern nur noch eine kleine Auswahl serviert. Beim Dinner beschränkte man sich drei Tage lang auf Suppe, Fleischgang und ein Dessert.
Fitzwilliam Darcy merkte man seine kleine Verletzung kaum noch an, lediglich das Sitzen bereitete ihm leichte Probleme. Es war ein Bote aus Pemberley eingetroffen, erstens mit Post von Georgiana und zweitens mit einer Reisetasche voller Kleidung für ihn, darunter natürlich angemessene Abendkleidung. Er packte die große Tasche aus und sortierte die Kleidung. Alles, was für den Ball in Frage kam, deponierte er sorgfältig auf seinem Bett. Mit gerunzelter Stirn begann er, etliche Kleidungsstücke zusammenzustellen. Bald gefiel ihm das nicht, bald verwarf er jenes. Er konnte sich nicht recht entscheiden. Was würde Miss Bennet davon gefallen? Etwas Elegantes, klar, aber nicht zu auffällig, nicht zu übertrieben, nicht zu geckenhaft, nicht zu streng.
Er setzte sich plötzlich aufs Bett und kämpfte unerhörter Weise mit einem anfallsartigen Lachen. Das gab es doch nicht! Er, der wenig eitel war, zwar Wert auf moderne und gute Kleidung legte, sich aber niemals absichtlich für irgendwelche Anlässe herausputzte wie ein stolzer Pfau, er hockte hier und brütete tatsächlich über seiner Kleidung für den morgigen Abend wie ein junges Mädchen vor seinem Debütball. Nein, entschied er, das konnte ja nicht angehen! Er warf ein paar Sachen zusammen, dunkle Breeches, ein edles weißes Hemd mit entsprechendem Krawattentuch, eine helle, fast silbrig schimmernde Weste, einen mitternachtsblauen Frack, doppelreihig mit sehr hohen Kragenaufschlägen. Das musste reichen, zum Donnerwetter, und jetzt bloß nicht mehr darüber nachdenken.