Er trat an die Tür, lauschte. Kein Geräusch drang vom Flur zu ihm. Er war noch fast vollständig angezogen, also drehte er den Türknopf und schritt hinaus auf den Flur. Nichts. Vor der Tür von Miss Bennet herrschte ebenfalls völlige Stille. Er nahm einen Leuchter von einer Kommode und stapfte die Treppe hinunter. Das ganze Haus lag in tiefem Schlummer. Durch die Fenster in der Halle schien das Mondlicht. Er ging weiter in die Wirtschaftsräume. Doch auch da war heute alles dunkel und ruhig. Am Weinkeller blieb er einen Moment stehen und rief sich die gestrige Nacht noch einmal in Erinnerung. Es schien ihm fast, als hätte er auch dies geträumt, aber dem war nicht so, denn er sah, dass der Kerzenständer aus seinem Zimmer mit der heruntergebrannten Kerze sowie der Korken der geleerten Weinflasche noch dort lagen. Er nahm den Kerzenhalter mit sich und steckte den Korken in seine Westentasche. Dann machte er sich wieder auf den Rückweg.
Oben an der Treppe angekommen, stellte er den größeren Leuchter wieder auf die Kommode im Flur zurück. Aber er war anscheinend nicht vorsichtig genug, denn es gab einen klackenden Laut, als er das Metall auf das polierte Holz unsanft aufsetzte. Er wollte schon schnell weitergehen, da ging genau gegenüber von ihm die Tür auf und die Augen von Elizabeth Bennet waren auf ihn gerichtet. Er gab einen kurzen Laut des Unmuts von sich.
„Mr. Darcy, wie ich sehe, sind Sie wieder auf Wanderschaft. Geht es Ihnen nicht gut?“
Im Kerzenschein sahen ihre Augen riesengroß aus.
Er schüttelte den Kopf: „Es ist alles in Ordnung, aber ich denke, der Schlaf heute Mittag war zu viel des Guten und nun bin ich eben hellwach.“
Sie wickelte sich fester in ihren Morgenmantel und trat auf den Flur hinaus.
„Kommen Sie mit“, forderte sie ihn auf und ging zielstrebig die Treppe hinunter.
„Miss Bennet, bitte warten Sie…“, er brach ab, damit nicht alle Hausbewohner geweckt wurden und stakste - sich in sein Schicksal ergebend - die Treppe hinab, hinter ihr her.
In der Küche hatte sie bereits einen Topf auf den noch recht warmen Herd gesetzt. Er stand breitbeinig in der Küchentür, nicht wissend, ob er stehen bleiben oder sich setzen sollte.
Da fing sie an zu reden: „Hören Sie, das kann auf Dauer nicht gesund sein, was Sie da treiben. Da Sie mir nicht anvertrauen wollen, was Sie so derart schlaflos macht, kann ich Ihnen auch nicht mit gutem Rat behilflich sein. Ich kann ja durchaus verstehen, dass Sie in mir wahrscheinlich die letzte Person sehen, mit der Sie über persönliche Belange sprechen wollen. Aber wenigstens werde ich nicht tatenlos zusehen, wie Sie Ihre Gesundheit ruinieren. Vor allen Dingen“, und es lag jetzt eine gewisse Strenge in ihrer Stimme, „gibt es heute Nacht keinen Wein. Der macht zwar müde, aber Sie sind am kommenden Morgen völlig erledigt. Das ist also wenig sinnvoll.“
Sie schüttete den erwärmten Inhalt des Topfes in eine Steingut-Tasse, nahm zwei Löffel, legte den einen vor ihm auf den Tisch und schöpfte mit dem anderen aus einem Einmachglas eine zähe Flüssigkeit in die Tasse. Dann entnahm sie ihrer Tasche im Morgenmantel ein winzig kleines Päckchen und streute mit spitzen Fingern daraus eine Prise zu dem Gebräu dazu. Schließlich stellte sie die Tasse auf den Tisch und bedeutete ihm, zu trinken.
„Was ist das?“ fragte er skeptisch.
Sie hatte sich jetzt gegenüber von ihm aufgebaut und stemmte in einer klaren Geste beide Fäuste auf ihre Hüften: „Denken Sie etwa, ich wollte Sie vergiften, Mr. Darcy?“
Er lachte trocken auf: „Nun, das sicher nicht, aber…“, er nahm die Tasse auf und schnupperte daran, „hmh, also was ist es? Milch sicherlich, offensichtlich auch Honig“, er roch abermals, „ah, und etwas leicht Alkoholisches auch. Aber was zum Teuf… ähm, was haben Sie da noch hinein gegeben?“
Sie schloss resigniert für einen Moment die Augen: „Es ist warme Milch, mit einem winzigen Schluck Brandy, dann zwei Löffel Honig, und eine kleine Prise eines Baldrianwurzelextraktes.“
„So etwas tragen Sie in der Tasche Ihres Morgenrocks herum?“ wunderte er sich.
„Ständig!“ gab sie trocken zurück.
Er schüttelte mit einem ganz leichten Lächeln den Kopf. Eine unglaubliche Frau. Wenn sie meinte, ihn damit von seiner nächtlichen Unruhe befreien zu können, lag sie völlig falsch. Ja, sie könnte ihn von seiner Schlaflosigkeit kurieren, sicher sogar, aber nicht mit einem zusammengebrauten Hausmittel. Es wäre nur möglich, wenn… er verbat sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Er trank aber gehorsam, weil wenngleich es schon nicht nutzte, es ganz sicher auch nicht schadete. Das Zeug schmeckte ja nicht einmal schlecht, wahrscheinlich wegen des geringen Anteils von Alkohol.
Wie in der vorangegangenen Nacht wanderten beide gemeinsam zurück durch die Halle, die Treppe hinauf. Diesmal aber verabschiedete sie sich nicht an ihrer Tür, sondern bestand darauf, warum auch immer, ihn bis zu seiner Tür zu begleiten.
„Miss Bennet“, versuchte er einzuwenden, „das ist absolut unüblich, ich bitte Sie, was soll das werden?“
Sie aber nahm den Leuchter von der Kommode und schritt weiter über den Flur, machte erst vor seiner Zimmertür Halt. Er beeilte sich, ihr nachzukommen.
Doch vor der Tür ließ eine Handbewegung von ihr ihn sofort anhalten: „Ich schaue mich jetzt bei Ihnen im Gemach kurz um, vielleicht entdecke ich etwas Abnormes, was Ihren Schlummer so sehr stört. Aber natürlich werden Sie solange hier draußen warten. Ich darf doch?“ fragte sie, hatte aber bereits ihre Hand auf dem Türknauf.
Er nickte, völlig verwirrt. Sie ließ die Tür halboffen und er konnte sehen, wie sie das Zimmer genau inspizierte. Sie nahm einen halbvertrockneten Blumenstrauß, öffnete das Fenster und warf ihn kurzerhand hinaus. Dann prüfte sie, ob das Fenster gut schloss und nicht klapperte. Außerdem unterzog sie das Bett und vor allen Dingen die Matratze einer eingehenden Prüfung. Sie strich darüber und drückte an mehreren Stellen drauf, schien aber mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Er beobachtete ihr Tun mit immer größer werdendem Erstaunen. Und – er musste es widerstrebend zugeben – mit wachsender Erregung: Sie ging in seinem Zimmer umher, sie hatte sein Bett berührt. Er wurde unruhig vor der Tür.
Einen Augenblick später kam sie heraus.
Sie blieb in kurzer Entfernung von ihm im Türrahmen stehen und sagte: „Der Blumenstrauß wird es wohl kaum gewesen sein, aber ich fand trotzdem, dass er in diesem erbärmlichen Zustand nichts mehr hier drinnen verloren hatte. Das Fenster klappert nicht, das Bett ist für Ihre Größe keineswegs zu klein, im Gegenteil, außerdem ist es, so denke ich, nicht zu hart und nicht zu weich zum Liegen. Ein sehr komfortables, ja fast luxuriöses Gästezimmer und nach meinem Dafürhalten gibt es auch keine äußeren Störfaktoren für Ihren kostbaren Schlaf. Sie müssen wahrhaft andere Gründe für Ihre nächtliche Unruhe haben, Sir. Vermutlich liegt Ihnen ein großes Problem auf der Seele und nagt besonders nachts an Ihnen.“
Er gähnte und hielt sich sofort entsetzt die Hand vor den Mund. Oh, wie unhöflich von ihm. Aber komisch, er war irgendwie müde. Er dachte an den Trank. Konnte das sein? Er verbeugte sich vor ihr und machte eine Geste, als wolle er ihre Hand aufnehmen. Sie ging rasch einen Schritt zur Seite, er verfehlte sie.
„Miss Bennet, Sie müssen entschuldigen, ich denke, ich sollte nun wirklich versuchen zu schlafen. Sie haben in der Tat erstaunliche Fähigkeiten, so scheint mir. Bemühen Sie sich nun nicht länger, auch Sie benötigen Ihren Schlaf dringend.“
Er unterdrückte einen weiteren Gähnimpuls, dann fuhr er fort, sehr leise: „Ich habe Ihnen auch zu danken für den Beistand in den beiden vergangenen Nächten, und für den netten Schlummertrunk von vorhin. Ich wünsche Ihnen eine angenehme restliche Nacht.“
Sie war bereits ein ganzes Stück den Korridor entlang gegangen, als sie sich noch einmal kurz umdrehte und ihm ebenfalls den Gutenachtgruß entbot.
Aufseufzend ließ er sich auf sein Bett fallen. Sie hatte das Laken mit ihrer Hand berührt. Er fuhr mit seiner Handfläche über die gleiche Stelle, jedenfalls ungefähr. Er wickelte sich in die Decke. Schade, dass sie ihm eben ihre Hand nicht gereicht hatte. Es war jedoch ein Versuch wert gewesen. Er rollte auf den Bauch und schlief augenblicklich ein. Aber die wirren Träume konnte er einfach nicht abstellen:
Georgiana lachte ihn im Traum an, er lachte zurück. Und dann – kam eine Frau in einem Hochzeitskleid auf ihn zu. Er konnte ihr Gesicht zunächst nicht erkennen, sie war einfach noch zu weit weg von ihm. Doch je näher sie kam, desto sicherer war er sich: Es war Elizabeth Bennet. Und sie sah so schön wie nie zuvor aus. Gerade wollte er ihr die Hand reichen, als Wickhams Gesicht, zu einer Fratze verzogen, vor ihm auftauchte. Elizabeth ließ den Blumenstrauß in ihren Armen vor Schreck fallen und wollte weglaufen. Wickham setzte hinter ihr her und fing sie ein. Er hörte sie schreien, konnte sich aber nicht vom Fleck bewegen. Es war, als wären seine Füße festgenagelt. Eine Welle von Zorn durchflutete ihn. Er zog eine Pistole und schoss auf Wickham. Der lachte nur höhnisch und zerrte Elizabeth immer weiter von ihm weg. Er gab einen weiteren verzweifelten Schuss ab. Wickhams irres Lachen schwoll zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an. Und da sah er Elizabeth getroffen zusammensinken, ein Schwall von Blut sickerte über ihr weißes Kleid. NEEEEIIIIN!
Schweißgebadet erwachte er. Das „Nein“ hallte noch im Zimmer nach, er hatte den Schrei wahrhaftig laut ausgestoßen. Der Morgen dämmerte gerade. Äußerst aufgewühlt sammelte er ein paar Kleidungsstücke auf und zog diese an. Ausgeruht war er nicht gerade, aber immerhin hatte er wohl ein paar Stunden, wenn auch unruhig, geschlafen. Er ging zunächst ziellos aus dem Haus, schlug dann den Weg zu den Stallungen ein und ließ sich ein Pferd satteln. Er sprengte über die Felder, lüftete sein geplagtes Hirn und seinen matten Körper durch. Als er in sattem Trab nach Netherfield zurückkam, fühlte er sich ein klein wenig besser. Er saß vom Ross ab und ging ins Haus; er nahm den direkten Weg zum Frühstück.