Yí war bereits über vierzig Jahre alt, nicht, dass das Arthur irgendetwas ausgemacht hätte, aber Asiatinnen verfielen rascher im Alter. Sie waren in ihrer Jugend und als junge Frauen meist von berückender Schönheit, doch diese verblasste mit zunehmendem Alter einfach viel schneller als dies bei Frauen in westlichen Ländern der Fall war.
Es war gut, dass sie nach wie vor oft und lange spazierenging, so blieb sie weiterhin recht schlank, auch wenn sich an Hüfte oder Po das ein oder andere kleine Pölsterchen eingeschlichen hatte.
Arthur ging es allerdings kaum anders, er hatte, seit er in China war, sicherlich ein oder auch eineinhalb Stone zugenommen. Dass er ebenfalls stramm auf die Vierzig zuschritt, war zusätzlich ein Faktor für die Gewichtszunahme. Vielleicht konnte er auf dem Schiff wie früher ein wenig aktiv mitarbeiten und so einige überflüssige Pfündchen loswerden.
Eine entsprechende Passage, ein Schiff nach Ägypten zu finden, war eine Sache für sich. Er musste auf gut Glück erst einmal nach Ceylon, vor dort aus würde es deutlich einfacher sein, eine große Dhau zu finden, die dorthin segeln würde. Also wartete er auf eine Nachricht aus dem Hafen, dass ein Segler mit Ziel Ceylon Shanghai verlassen würde.
Die letzten Tage und vor allem Nächte verbrachte er überwiegend damit, Yí zu trösten und ihr die Dinge wieder und wieder zu erläutern, sie ihr nahezubringen: „Süße Yí, du wusstest von Anfang an, dass es ein Ende haben würde, nicht wahr?“
„Wusste ich, ist aber sehr hart, wenn Abschied dann tatsächlich da.“
„Glaubst du denn, für mich wäre es weniger hart? Ich gehe mit sehr viel Schmerz im Herzen.“
„Ich bin dankbar sehr, dass ich kann bleiben in schönes Haus. Immer dann können denken an Arthur.“
„Ja. Das sollst du auch. Du wirst dich gut um die anderen Qiès kümmern, da bin ich mir sicher.“
„Ich geben große Mühe, wenn nicht immer werden traurig, weil Arthur weggegangen ist.“
„Yí, du sollst nicht so reden. Und bitte nicht wieder weinen. Ich kenne schon gar kein anderes Gesicht mehr von dir, seit Vater tot ist.“
Seine Worte hatten nur zum Ergebnis, dass sie umso mehr schluchzte: „Arthur… nicht fühlen so wie ich… so geschlagen nieder und getäubt.“
„Betäubt heißt das.“
Sie brauste auf: „Egal! Ich bin getäubt, getäubt, getäubt! Aber Arthur das nicht kümmert, er denkt nur an große Rückreise und wie er kommt nach… Ägü… na, dahin eben.“
„Ägypten.“
„Und immer weiß alles besser!“
„Sch! Beruhige dich doch. Ich möchte doch nur, dass du es richtig lernst.“
„Brauche jetzt nix mehr lernen! Aus! Wie sagen immer… finito!“
„Das ist Italienisch.“
Sie heulte auf: „Schon wieder verbessern mich, ach, Arthur ist grausam.“
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie die ganze Nacht fest im Arm zu halten und sie auf diese Art und Weise zu trösten.
„Schau, ich muss auch wegen des Zettels in der Taschenuhr nach Hause. Und ich muss Mutter sehen und ihr die Nachricht vom Tode ihres Gatten bringen. Was nicht sehr einfach für mich ist. Außerdem“, er hielt einen Moment inne, schluckte nervös und sprach dann aber so ruhig wie möglich weiter, „ich bin Ende Dreißig und ich bin der einzige Erbe der Firma. Somit ist es auch meine Pflicht, für… also für Nachkommen zu sorgen. Dafür brauche ich eine nette englische Frau.“
„Nur wegen machen Kind?“
„Kinder. Nicht nur, Yí, natürlich wünsche ich mir eine Frau an meiner Seite, die mein Leben auch anderweitig bereichert. Die mich liebt und die ich liebe.“
„Arthur heiraten aus Liebe dann?“
„Das hoffe ich sehr. Ich würde mich gerne in eine passende Frau verlieben und sie vor allem deswegen heiraten.“
„Lieben nix Yí?“
Viereinhalb Jahre lang war das nie ein Thema gewesen. Konkubinen wussten, dass es eigentlich völlig indiskutabel war, darüber mit dem Gönner zu sprechen.
Bei Clifford und Tián war er es gewesen, der diese Sache zur Sprache gebracht hatte, nicht sie.
Auch Meí hatte niemals das Wort benutzt. Sie hatte sich trotz aller innigen Verbundenheit mit Arthur da sehr strikt an die Regeln gehalten. Doch Yí war emotional völlig aufgelöst und daher überschritt sie diese Grenze.
Arthur wusste nicht genau, was er sagen und wie er sich verhalten sollte.
Aber sie hatten ganz zu Anfang das Prinzip der Ehrlichkeit vereinbart, und daran wollte er sich halten: „Doch, sehr sogar. Aber – es ist nicht das, was ich mit einer Ehefrau haben kann. Ich tue dir jetzt in diesem Moment ganz sicher sehr weh, denn ich sage nun, dass ich eine passende Frau aus meiner Heimat jederzeit einer chinesischen Qiè vorziehen würde – was den heiligen Stand der Ehe anlangt!“
Sie schrie auf und rollte sich von ihm weg.
Er hatte Mühe, sie zu bändigen und zur Vernunft zu bringen: „Yí! Ich sagte doch, ich muss dir wehtun, der Ehrlichkeit wegen. Das bedeutet nicht, dass du für mich weniger wert bist oder du nicht einen Platz in meinem Herzen hättest. Den hast du, keine Sorge. Bis ans Ende meiner Tage.“
„Arthur das schwören?“
„Aber sicher, ich schwöre es!“
Sie beruhigte sich langsam und kuschelte sich wieder an ihn.
Und er ergänzte: „Ich schätze auch, dass es für meine zukünftige Frau von nicht unerheblichem Interesse sein dürfte, was ich hier von meinen beiden Qiès gelernt habe.“
Sie schniefte an seiner Brust und murmelte: „Bekommt sie perfekten Bettgenossen.“
Er musste lächeln: „Na, wenn du das sagst.“
„Ich muss überprüfen! Sofort!“
„Nichts lieber als das. Welches Programm wünscht sich die Dame?“
Sie kicherte, was sich in ihrer Stimmlage nie kindisch oder schrill anhörte: „Ich darf mir wünschen?“
Er bekräftigte dies durch ein deutliches Nicken.
„Dann möchte haben großes Verwöhnprogramm Arthur Spezial für Yí.“
Arthur schmunzelte: „Dachte ich mir. Du raffiniertes Weibsstück, du!“
Und dann beeilte er sich, das Gewünschte zu liefern.
Er hielt den Zettel vom Hafen in der Hand und fing tatsächlich an zu zittern. Er würde am kommenden Tag mit dem Klipper Marjorie nach Ceylon auslaufen! Arthur begann - völlig untypisch für ihn - in den letzten Stunden in Shanghai regelrecht hektisch zu werden.
Yí hatte er nach Xinzhuang geschickt, in weiser Voraussicht, da sie ihm in Xujiahu Qu nur im Weg gestanden wäre. Sie sollte dort einigen Mädchen beim Packen und Umsiedeln nach Xujiahu Qu helfen.
Sie würde erst spät am Abend zurückkehren, dann blieb ihnen eine allerletzte gemeinsame Nacht.
Sie hatte Angst gehabt, er würde weg sein, ohne sich von ihr zu verabschieden, wenn sie aus dem Haus war, aber das brachte er nun wahrlich nicht übers Herz. Er würde sie ein letztes Mal in seinen Armen halten, in seinem Bett haben.
Am Tag der Besetzung Heung Gong Tsais durch Charles Elliott segelte Arthur Clennam in Shanghai an Bord der Marjorie los. Yí hatte sich sehr gefasst und ruhig von ihm verabschiedet, eigentlich in perfekter Konkubinen-Manier. Es war Arthur beinahe zu sachlich vonstatten gegangen, doch schließlich hatte er Tränen in ihren Augen schimmern sehen und als er sich vom Haus entfernt hatte, hatte er sich zwar nicht mehr umgedreht – es hätte ihm sonst das Herz gebrochen – aber er hatte sie dann sehr laut wehklagen gehört.
Er meldete sich sofort beim zuständigen Bootsmann und fragte, ob man ihn als Aushilfe beschäftigen würde.
Der Mann schaute Arthur an, als hätte dieser ihm einen völlig indiskutablen Vorschlag gemacht und nachdem er verstohlene Blicke auf die mittlerweile etwas behäbigere Figur des Passagiers geworfen hatte, sagte er: „Wo denken Sie hin, wir lassen unsere Passagiere doch nicht arbeiten hier. Und Sie sehen so elegant und weltmännisch aus, Mr. Clennam, dass ich - ehrlich gesagt - Ihnen eine handfeste Arbeit auch gar nicht zutraue.“
„Gut. Möchten Sie eine Kostprobe?“
„Lieber nicht, Sie sehen so untrainiert und… ähm, wohlständisch aus, dass das schwerlich gut gehen würde, verzeihen Sie meine Offenheit.“
Arthur sagte nichts mehr, er wollte sich schließlich nicht aufdrängen. Also begnügte er sich vorerst damit, seit vielen Jahren wieder eine Seereise zu genießen; er hatte sich zwar nicht direkt danach gesehnt, aber nun, wo er an Bord war und die Seeluft ihm um die Nase wehte, spürte er doch wie gut es ihm tat.
Da in Kanton kriegsähnliche Zustände herrschten, verzichtete man auf ein Anlegen dort. Stattdessen segelte die Marjorie weiter nach Sanya an der Südspitze der Halbinsel Hainan. Arthur konnte kaum glauben, dass dies noch zu China gehörte, denn es sah dort so aus, wie auf den Kokos-Inseln oder auf Sao Tomé: Palmen, blütenweiße Strände und türkisfarbenes Meer. Zum ersten Mal seit Jahren badete er recht unbeschwert im Indischen Ozean, genoss das Tropenparadies und fühlte sich so leicht wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Dennoch hatte er stets ein wachsames Auge auf Haifische. Es war der erste Tag seit dem Tod seines Vaters, an welchem er sich unbelastet, nicht mehr depressiv und wieder halbwegs fröhlich fühlte, denn inzwischen hatte er auch die Trennung von Yí einigermaßen überwunden.
Wochenlang herrschte extrem gutes Wetter, die Marjorie überquerte jedoch nie den Äquator, hielt sich stets in den nördlichen Tropen auf und schob sich durch exotische Inselwelten um Viet Nam, der Britischen Kronkolonie Straits Settlements (Anm.: heute Malaysia, Straits Settlements war vor allem rund um Georgetown und Penang) und Sumatra herum.
Nach zehn Wochen Fahrt erreichte man Colombo auf Ceylon. Dort herrschte sehr geschäftiges Treiben; ein großer Hafen und ein herrschaftliches Gebäude der BOK erinnerten daran, dass die Briten hier handelsmäßig das Sagen hatten und Tee, Gewürze, Hölzer und sonstige Waren in Unmengen dort umgeschlagen wurden.
Die Marjorie lud ebenfalls einiges an Sandelholz, das für Bauvorhaben in den ostafrikanischen Ländern bestimmt war. Im Hafen von Colombo sah Arthur auch zum ersten Mal die arabischen Handelsschiffe, so genannte Dhaus, auf einer davon würde er dann weitersegeln.
Angesichts der lärmenden Masse von Menschen der indischen Rasse, wieder etwas Neues für Arthur, zog er sich aber so weit wie möglich aus dem Trubel zurück. Colombo kam ihm außerdem sehr schmutzig, überfüllt und kaum sehenswert vor. Er sah zwar einige der einheimischen Frauen, reich geschmückt, mit prachtvollen Gewändern, aber er hatte so gar kein Interesse mehr an ihnen. Irgendwie träumte er inzwischen oft von einer blonden, englischen Rose… er konnte keine schwarzhaarigen oder brünetten Frauen mehr sehen. Sie hatten seither stets sein Leben geprägt, ob es Flora Casby in seinen Jugendjahren gewesen war, die schönen spanischen Mädchen in Vigo damals, nicht zu vergessen die rassige portugiesische Schönheit Rafaela aus Luanda, ja sogar die Muschelsammlerin am Strand von Sao Tomé, die erste Frau, der er sich – wenn auch eher unfreiwillig - nackt präsentiert hatte, und dann natürlich seine chinesischen Konkubinen – er hatte mittlerweile ein fast schmerzhaftes Verlangen nach einem völlig gegensätzlichen Typ.