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Author's Chapter Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Yí-Yuè – Näheres unter Kapitel sechsundvierzig
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig

Erwähnung finden Clifford Baxter, Méi-Hua und ein Rikscha-Fahrer

Orte: Unterwegs in Xujiahu Qu und im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: ./.










 

Arthur zog sich seinen Mantel über und Handschuhe an seine Hände, denn es war zwar trocken, aber kalt draußen, dabei rief er nach Yí: „Bist du fertig? Und auch dick genug angezogen? Möchtest du noch eine Jacke von mir haben?“

Sie steckte den Kopf aus der Zimmertür und antwortete schnell: „Haben fast alles. Sehr kalt draußen?“

Arthur nickte zur Bestätigung.

„Meine Sachen kommen erst morgen. Brauche ich etwas für Kopf und Hände.“

Er trat den Weg zurück in das Schlafzimmer an: „Öffne bitte die Kommode, ich glaube dort sind gestrickte Handschuhe. Und eine nicht sehr schöne, aber warme Mütze müsste auch da sein.“

Yí fand das Gesuchte und versuchte, die Handschuhe, die mit Fingern gestrickt waren, über ihre zarten Hände zu ziehen. Hier in China kannte man nur Fäustlinge, sie brauchte daher eine Weile, um ihre Finger darin unterzubringen. Beim zweiten Handschuh kam Arthur hinzu und half ihr dabei, eine Geste, die sie völlig aus dem Konzept brachte.

Dann zog er ihr die grob gestrickte Mütze über das Haar, erst behutsam, nach ein paar Sekunden etwas forscher und schließlich stopfte er ihr mit sichtlichem Vergnügen die rötlich-schwarzen Haare darunter: „Fertig! Und nun lass uns einen sehr langen Spaziergang machen. So lange, wie wir es in der Kälte aushalten.“

Sie marschierten zuerst schweigend nebeneinander her, endlich begann er die Unterhaltung: „Sie haben dir sicher von Méi-Hua erzählt, nehme ich an.“

Yí nickte: „Ein wenig, ja.“

Arthur lächelte schwach: „Also alles. Hätte ich mir denken können. Nicht böse sein, Yí, aber ihr Chinesen seid ein neugieriges Völkchen. Möchtest du meine Erzählung der Geschichte hören?“

Sie war erstaunt über dieses Angebot und sagte dies auch, denn sie hatte verstanden, dass wohl Ehrlichkeit die Beziehung zwischen ihm und ihr prägen würde: „Würde ich gerne hören, bin ich überrascht, dass Arthur mir es bereits heute, nach nur einem gemeinsamen Tag, erzählen möchte.“

„Ja, da beginne ich gleich mit etwas sehr Wichtigem: Vertrauen war das Wort, dass für Méi und mich von großer Bedeutung war. Und ich denke, bei uns wird das Wort Ehrlichkeit eine sehr große Rolle spielen. Beide Worte hängen zusammen, ohne Vertrauen keine Ehrlichkeit und ohne Ehrlichkeit kein Vertrauen. Und das macht mich sehr zuversichtlich, was dich und mich betrifft. Ich glaube, dass wir gut harmonieren, wenn auch vermutlich auf andere Art und Weise wie Méi und ich harmoniert haben. Was die Sache wiederum recht spannend macht. Ich weiß nicht, was man dir über sie und mich erzählt hat, aber es ist eigentlich nichts Spektakuläres. Sie war im Jahr der Schlange geboren, war drei Jahre jünger als ich und sie hat mir sehr viel beigebracht. Nicht nur Chinesisch…“, er hielt inne und schaute Yí an, um zu sehen, wie sie reagierte. Sie hatte eine sehr rasche Auffassungsgabe, das hatte er sofort bemerkt.

Yí wusste sogleich, auf was er anspielte: „Arthur will sagen, dass er ein sehr unerfahrener junger Mann ist gewesen, als angekommen in China?“

Er blieb stehen, nickte, schaute sich um, zog Yí nahe zu sich und flüsterte in ihr Ohr: „Genauso ist es. Ich war völlig grün hinter den Ohren, aber – das bleibt unter uns, ja?“

Nun kicherte sie zum allerersten Mal: „Geheimnis bei mir ist sicher.“

„Gut. Zwischenfrage eins: Bist du froh, bei mir zu sein?“

„Antwort auf Zwischenfrage eins: Bin ich.“

„Sehr schön. Dann schließt sich daran Zwischenfrage zwei nahtlos an: Darf ich dich hier draußen küssen?“

„Antwort auf Zwischenfrage zwei: Arthur darf, aber nur, wenn keiner sieht zu.“

„Ich schwöre, dass ich seit fast einer halben Stunde keine Menschenseele mehr gesehen habe.“

„Oh nein, Arthur soll immer ehrlich sein!“

„Es war ein Versuch. Schade. Du hast den Rikscha-Fahrer vor wenigen Minuten also doch gesehen.“

„Sagte schon, habe gute Augen.“

„Offensichtlich. Ich muss sagen, dass mir der Spaziergang mit dir sehr viel Spaß macht. Da ich dich jetzt nicht küssen darf, komme ich zurück zum ursprünglichen Thema: Méi musste sich auf Weisung ihrer Ausbildungsstätte einmal pro Monat dorthin zurückziehen. Eine Ausnahme davon hatten wir nach langem Hin und Her nur für unsere Winter-Aufenthalte in Kanton erhalten. Letztendlich hat diese sture Regelung sie das Leben gekostet. Sie… sie ist auf dem Weg von dort zurück zu… zu uns nach Hause umgekommen. Die Schlammlawine auf dem Huangpu hat sie in den Tod gerissen.“

„Es war schon schrecklich allein davon zu hören. Müssen gewesen sein noch viel schrecklicher, betroffen zu sein von großem Unglück. Ich fühlen sehr mit Arthur, auch heute noch.“

Er schüttelte den Kopf, die fröhliche Stimmung war inzwischen ein wenig von Wehmut und Schmerz überlagert: „Das ist sehr lieb von dir. Nur – ich möchte so etwas keinesfalls noch einmal erleben. Davor, also vor der Sache mit Méi, bevor ich überhaupt nach China gekommen bin, hatte ich bereits einen guten Freund auf der Reise hierher verloren. Ich habe keine große Lust mehr darauf, alle, die mir etwas bedeuten, an den Tod zu verlieren. Mehr könnte ich nicht ertragen.“

„Das ich verstehe gut. Zwischenfrage eins: Hat Arthur seit dem Rikscha-Fahrer eine weitere Person gesehen?“

Arthur blickte sie verwundert an, dann antwortete er: „Antwort auf Zwischenfrage eins: Ich habe niemanden mehr gesehen, wundere mich aber über diese Frage, denn ich kann den Sinn nicht ga…“, er hielt abrupt inne und verstand, „ah, Zwischenfrage drei: Darf ich dich jetzt küssen?“

Yí nickte, und kaum hatte sie ihren Kopf zustimmend geneigt, da hatte er auch schon hungrig von ihrem Mund Besitz ergriffen.

Sie kehrten durchgefroren, aber recht beschwingt ins Haus zurück, zogen hastig die dicken Sachen aus und gingen sofort zum Tee.

Mr. Clennam blickte den beiden entgegen: „Darf ich erwähnen, dass ihr sehr lange unterwegs gewesen seid? Habt ihr denn nicht gefroren?“

Arthur tauschte einen raschen Blick mit Yí, errötete etwas und gab dann Antwort: „Doch, ein wenig.“

„Es freut mich, dass du jemanden gefunden hast, der deine Vorliebe für ausgedehnte Spaziergänge mit dir teilt. Wo ist Clifford?“

„Ich habe ihn heute noch nicht gesehen, Dad. Erst habe ich… ähm, ziemlich lange gebadet und eine Weile nach dem Frühstück sind Yí und ich bereits nach draußen aufgebrochen. War er zum Lunch nicht bei dir? Dann ist er vielleicht im Club, wenn man das geschrumpfte Häuflein Engländer überhaupt noch so nennen kann.“

Gabriel Clennam nickte bedächtig und merkte dann trocken an: „Dass du dein Bad heute morgen ausgiebig genossen hast, war nicht ganz zu überhören.“

Arthur fiel der Teelöffel vor Entsetzen aus der Hand, nun ging das wieder los! Dass dieses Haus aber auch nur über diese blöden, filigranen Holztüren verfügte, war wirklich ein Fluch. Es war besser, darauf nichts zu entgegnen, also biss er sich verlegen auf die Lippen und rührte weiter in seiner Tasse, nachdem er den Löffel schnell wieder aufgehoben hatte.

Doch er hatte nicht mit Yí gerechnet, die überraschend auf das Thema ansprang: „Entschuldigen, Laoyé, war ich schuld, oder?“

Gabriel Clennam konnte sich das Lachen jetzt kaum noch verkneifen und sagte: „Das will ich doch sehr hoffen, Yí. Ich bin ja froh, dass in dieses Haus wieder ein wenig Leben eingekehrt ist. Mir ist es lieber, ich höre diese Laute und Geräusche, als unterdrücktes Weinen und unfeine Verwünschungen, oder schlimmer noch – als beständiges Schweigen und unheimliche Stille.“

„Das verstehe ich, Laoyé. Ich wirklich sehr froh, können sein bei Ihnen allen.“

„Wir sind alle froh, dass wieder eine fröhlichere Zeit angebrochen ist. Wie nimmst du deinen Tee, Yí?“

Nach dem Tee zog Arthur Yí mit sich ins Arbeitszimmer und packte die Tuschsachen aus. Dann malte er – inzwischen recht schwungvoll und gekonnt – das Schriftzeichen für ‚Ehrlichkeit’ auf ein Papier. Als es getrocknet war, ergriff er das Blatt, nahm Yí am Ärmel ihres Qipao und geleitete sie ins Schlafzimmer. Dort hängte er das Bild über dem Bett auf.

Sie freute sich, fragte aber mit dem ihr eigenen Scharfsinn nach: „Es gab das andere Schriftzeichen, das für ‚Vertrauen’, auch?“

Arthur bejahte ihre Frage durch ein kurzes Nicken und ergänzte dann: „Das Papier mit diesem Zeichen liegt… es liegt bei Méi im Sarg.“

Da trat Yí auf ihn zu, zum ersten Mal völlig aus eigenem Antrieb, und schmiegte sich mitfühlend an seine breite Brust: „Arthur werden noch sehr lange an sie denken, das ist gut.“

„Stört es dich, wenn ich darüber rede und ab und zu an sie denke?“

„Nein. Nix stören mich. Hilft Arthur ja, wenn er darüber kann reden.“

„Yí?“

„Ja?“

„Gehen wir zu Bett?“

„Ja. Gerne. Sehr gerne sogar.“

Er musste schmunzeln: „Du hörst dich bereits ganz anders an als gestern Abend.“

„Oh, ich weiß jetzt wie schön es ist, mit schönem Mann zu teilen Bett!“

Und nun lachte er lauthals auf, seit langer, langer Zeit mal wieder.

 

 






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