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Author's Chapter Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins

Weiterhin Kapitän, Erster Offizier, Bootsmann und Besatzung der Pride of the Seas

Erwähnung finden schwarze Sklaven, Arthurs Lehrer und Flora Casby

Orte: Auf hoher See im Atlantik zwischen Casablanca und Dakar an Bord des Klippers Pride of the Seas, Dakar in Französisch-Westafrika (das heutige Senegal) und die Insel Gorée vor Dakar, das Zentrum des dortigen Sklavenhandels mit dem Maison des Esclaves.

Glossar: Maison des Esclaves - französisch: Haus der Sklaven
 










 

War es auf dem Weg nach Casablanca noch die stürmische, raue See gewesen, die Probleme verursacht hatte, so war es nun zwischen Casablanca und Dakar eine mehrtägige Flaute, die alle in Verzweiflung stürzte. Sicher musste man bei einer Schiffsreise mit derartigen Dingen rechnen, doch dass sich kein einziges Lüftchen für so lange Zeit regte, war mehr als ungewöhnlich, das musste sogar der Kapitän zugeben.

Dafür war reichlich Gelegenheit für Arthur, sich zum ersten Mal ein wenig mehr mit Navigation auseinanderzusetzen, aber er wusste, den perfekten Umgang mit den astronomischen Messinstrumenten würde er nie lernen. Es war ein Buch mit sieben Siegeln für ihn. Lieber saß er an einem schattigen Plätzchen an Deck und schrieb in seiner freien Zeit in sein Reisetagebuch, dem er sich ausgiebig widmete. Er notierte natürlich auch all das, was der Erste Offizier ihm bezüglich Navigation beibrachte, aber ein Meister in diesem Fach würde er, wie gesagt, wohl nicht werden.

Überdies lernte er während der Flaute vor der Küste Afrikas endlich das Schwimmen. Im Internat hatte man zwar ein wenig auf Leibesertüchtigung Wert gelegt, doch das hatte meist Dauerlauf und Rudern bedeutet. Schwimmen zu können war kaum ein Ziel gewesen, dem sich die Lehrer dort gewidmet hatten. Im Sommer war es an ein oder zwei Tagen erlaubt gewesen, im See baden zu gehen, doch die wenigsten konnten wirklich schwimmen. Die meisten Schüler hatten stets nur im seichten Uferbereich herumgeplanscht.

Es hatte von den wenigen, die etwas schwimmen konnten, auch keiner Interesse gezeigt, denen, die es nicht konnten, das Schwimmen letztendlich beizubringen.

Arthur war immer nach einigen wenigen unbeholfenen Schwimmstößen, die er sich bei den anderen abgeguckt hatte, untergegangen als wäre er aus Blei. Also hatte er das Schwimmen ziemlich rasch aufgegeben und nicht mehr weiterverfolgt, wozu auch.

Nachdem er jetzt einige Male ordentlich Seewasser neben der Pride of the Seas geschluckt hatte und mit Händen und Füßen rudernd prustend wieder an der Oberfläche aufgetaucht war, hatte er langsam begriffen, wie er den Auftrieb des Wassers mit kontrollierten, eingeübten, technisch einwandfreien Bewegungen für sich nutzen konnte.

So dauerte es gar nicht lange, bis er das nasse Element ordentlich erobert hatte und er es schließlich richtig genießen konnte, im wohl temperierten Wasser zu schwimmen und sich dabei auch ein gutes Stück weit vom Schiff zu entfernen, um dann mit kraftvollen Schwimmbewegungen erfrischt und vor allem körperlich sauber zur Strickleiter zurückzukehren.

Panik erzeugte in ihm jedoch eines Mittags der laute Ruf des Bootsmannes „Hai in Sicht!“. Natürlich erscholl diese Warnung ausgerechnet dann, als Arthur sich am weitesten überhaupt vom Schiff entfernt hatte, so weit war er zuvor noch nie hinausgeschwommen. Hektisch und beinahe wieder so unbeholfen wie früher schwamm er zurück und erreichte atemlos mit Mühe und Not die rettende Strickleiter. Mit zittrigen Knien erklomm er diese und kaum hatte er sich die Bordwand entlang ein Stück nach oben gehievt, da erblickte er unter sich auch schon die dreieckige, silbrig schimmernde Flosse des Meeres-Raubtieres. Arthur brach der kalte Schweiß aus, das war ja gerade noch mal gut gegangen!

In der Mannschafts-Messe kursierten die wildesten Geschichten über riesige Meeresungeheuer, gefräßige, lebensgefährliche Raubfische und allerlei andere ungewöhnlichen Dinge, von denen man nicht genau wusste, ob es nun lediglich kräftig gesponnenes Seemannsgarn oder in der Tat die schreckliche Wahrheit war.

Dass man sich aber vor Haifischen in Acht nehmen musste, das wusste Arthur und er verspürte wahrlich keine Lust, als Fischfutter zu enden oder mit abgefressenen Gliedmaßen sein restliches Dasein als Krüppel zu fristen.

Mit weiterer erheblicher Verspätung kam die Pride of the Seas endlich in Dakar, der Hauptstadt Französisch-Westafrikas an. Es war für alle eine große Erleichterung, da die Lebensmittel an Bord mehr als knapp geworden waren und nicht nur Arthur in den letzten Tagen sehr oft mit knurrendem Magen zu Bett hatte gehen müssen.

Arthur hatte Landgang bekommen, aber er ahnte bereits, dass es nicht sonderlich viel bringen würde, da sein Französisch absolut miserabel zu nennen war. Er hatte in der Schule vor allem Latein pauken müssen, Französisch hatte es zwar als Dreingabe gegeben, aber es war nicht viel davon bei ihm hängen geblieben.

Es hing ein schweres Gewitter über der Stadt und Arthur hatte das Gefühl, nur mit Mühe atmen zu können. Trotzdem bewegte er sich unsicher und unauffällig durch die Straßen in Hafennähe und schaute sich staunend die Menschen in Afrika an. Wie dunkelhäutig, regelrecht schwarz sie alle waren. Und diese krausen Haare und die - Arthur wurde über und über rot im Gesicht - wenige Kleidung, die die Einheimischen trugen. Du liebe Zeit, die meisten liefen wirklich halbnackt durch die Gegend. Beschämt ertappte er sich dabei, wie er aus den Augenwinkeln einige Frauen anstierte, die völlig ungeniert ihre Babys an der Brust saugen ließen und dies auch noch in aller Öffentlichkeit.

Wenn man Arthur über biologische Vorgänge aufgeklärt hatte, dann nur unvollständig und entsprechend unangemessen. Von einigen älteren Jungs im Internat hatte er hier und da ein paar Brocken aufgeschnappt und sie zu einem wirren Mosaik zusammengesetzt. Sein Lieblingslehrer, zu dem er klein wenig privates Vertrauen aufgebaut hatte, hatte ihm einige weitere Dinge erläutert, doch vieles auch nur nebulös angedeutet.

Arthur war klar, dass Männer und Frauen sich anatomisch unterschieden, dass Frauen Brüste hatten, um Kinder nähren zu können, aber in Natura hatte er dergleichen wahrlich noch nie zu sehen bekommen. Er war sexuell absolut unerfahren, obwohl er schon mehr als zwanzig Jahre zählte. Einmal hatte er mit knallrotem Kopf ein Mädchen geküsst, eines, von dem es damals hieß, dass man es nicht heiraten musste, wenn man es geküsst hatte. Als dieses, zugeben ziemlich leichte, Mädchen ihm dann weitere Dienste erweisen wollte, hatte er sich völlig verunsichert aus dem Staub gemacht. Er hatte Herzrasen bekommen und sich vorgestellt, wie er Flora Casby in absehbarer Zeit küssen würde, und sie dabei im Arm halten würde, und… alles Weitere überstieg dann allerdings sein Vorstellungsvermögen.

Mit Flora war es natürlich nie so weit gekommen und nun lief er hier in einem afrikanischen Land durch die Gegend und war noch immer so unschuldig wie ein Engelchen. Nun ja, ein Mann war er durchaus, er hatte auch entsprechende körperliche Reaktionen - vor allem oft beim Anblick Floras - gehabt, und als er zum ersten Mal in seinem Leben mit einer fast schmerzhaften morgendlichen Erektion aufgewacht war, hatte er entsetzt auf die Beule in seinem Nachthemd gestarrt und gebetet, dass es rasch aufhören möge.

An Bord der Pride of the Seas hatte er endlich, durch den rauen Jargon der Seeleute bedingt, kapiert, was Beischlaf konkret bedeutete und – er lief erneut krebsrot an – wie man auch als Junggeselle ohne Frau eine Erektion recht genussvoll loswurde. Und dies ganz ohne Beten! Er sagte sich zwar, dass dies sicher eine große Sünde sei, konnte aber trotzdem nicht umhin, diesen praktischen Tipp seiner Matrosenkollegen anzuwenden, als er mal wieder von Flora träumend erregt in seiner Kajüte lag. Danach war er zwar nicht mehr erregt, dafür aber sehr aufgeregt! Oh, lieber Himmel, das waren ja unglaubliche Wonnen. Wie musste so ein Erlebnis erst gemeinsam mit einer Frau sein? Arthur wagte gar nicht, sich das auszumalen, denn eine derart beflügelte Fantasie hatte er nämlich mangels Erfahrung nicht.

In Dakar bekam Arthur weitere Dinge zu sehen, die ihn sehr nachdenklich machten. Dass die Afrikaner fast gänzlich ohne Scham halbnackt herum sprangen, war zwar eine faszinierende Erfahrung, doch dass Dakar das größte Zentrum Westafrikas für den Sklavenhandel war, stimmte Arthur sehr nachdenklich.

Er hatte in der Schule gelernt, dass Sklavenhandel in England seit 1807 gesetzlich verboten war. Viele andere Länder jedoch schien das nicht im Geringsten zu interessieren, und so verschiffte man große Horden an kräftigen schwarzen Männern, aber auch Frauen und Kinder, nach wie vor von Dakar aus nach Brasilien und zu den karibischen Inseln, wo in Curaçao einer der größten Sklavenmärkte im karibischen Raum betrieben wurde. 

Arthur war entsetzt, unter welch furchtbaren Bedingungen man die Einheimischen auf der Insel Gorée vor Dakar vom Maison des Esclaves auf die Schiffe trieb, dort hineinpferchte und dann schwer beladen mit der menschlichen Fracht ablegte. Er wandte sich mit Grauen ab von dem Anblick, den der nicht Enden wollende Strom der Schwarzen auf den Quais und den Planken zu den Schiffen ihm bot.

Er lag lange wach in dieser Nacht und dachte intensiv darüber nach, ob Clennam & Sons sich nicht auch in China schuldig machte an einer Art Versklavung, wenn man die Chinesen dort für einen Hungerlohn in den Seidenmanufakturen schuften ließ. Arthur war sehr, sehr unwohl bei diesem Gedanken. Erst gegen Morgen fiel er endlich in einen unruhigen Schlummer.

Wenigstens musste er nicht länger als Matrose an Bord arbeiten und konnte nun den Rest der langen Seereise als Passagier genießen.

 

 






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