Ein Frühling in Milton by Jule
Summary: Was wäre wenn die Abschiedsszene zwischen Margaret und Frederick an der Outwood Station anders  verlaufen wäre?
Categories: Richard Armitage, North and South, Victorian Geschichten, Novel-length Characters: Margaret Hale, Mr. John Thornton
Genres: Drama, Romanze
Warnings: Keine
Challenges: Keine
Series: Keine
Chapters: 8 Completed: Nein Word count: 14063 Read: 22041 Published: 09 Jul 2008 Updated: 09 Aug 2008
Story Notes:

Diclaimer: Ich verdiene nichts an der Geschichte, alle Rechte daran und an den darin befindlichen Personen liegen bei der BBC.

 

ADMIN-ANMERKUNG: Diese Geschichte wird derzeit von der Autorin nicht weiterbearbeitet! Wir bitten um Verständnis, danke! 

1. Kapitel 1 - Der Schein trügt by Jule

2. Kapitel 2 - Boucher by Jule

3. Kapitel 3 - Begegnungen by Jule

4. Kapitel 4 - Ein neuer Feind by Jule

5. Kapitel 5 - Tittle-Tattle by Jule

6. Kapitel 6 - Essen für alle by Jule

7. Kapitel 7 - Hilfe für Frederick by Jule

8. Kapitel 8 - Ein neuer Aufseher muss her by Jule

Kapitel 1 - Der Schein trügt by Jule
Ein junges Paar, das sich leise unterhielt, betrat den Bahnsteig der fast leeren Outwood Station. Sie gingen auf die Gleise zu und blieben an einem Waggon stehen.
„Nur noch ein paar Minuten.“ Fred sah seine Schwester traurig an.
„Ich weiß nicht, wann ich dich wieder sehen werde!“, seufzte er.
Margarets Augen füllten sich mit Tränen und sie schlang wortlos ihre Arme um Fred, der die Umarmung erwiderte.

Im selben Moment sah sie eine Gestalt am anderen Ende des Bahnsteigs stehen. Sie erstarrte, als sie die Person erkannte. Freds Augen folgten Margarets Blick und er sah nun ebenfalls den Mann, der sich düster blickend abwandte.
„Wer ist das?“, fragte Fred ängstlich.
„Mr. Thornton“, antwortete Margaret leise. Was hatte er hier zu suchen? Margaret sog scharf die Luft ein und schloss die Augen. Was musste er nur von ihr denken?
„Hat der Mann aber einen finsteren Blick“, sagte Fred und sah immer noch in die Richtung, in die Thornton soeben verschwunden war. „Das muss wohl ein sehr unangenehmer Mensch sein.“
„Nein, Fred, du kennst ihn nicht.“ Margaret rang um Fassung. „Das Leben hat es nicht immer gut mit ihm gemeint. Sei nicht so hart mit ihm!“, bat Margaret ihren Bruder.
Fred wandte sich dem Zug zu. „Ich schreibe dir…“, sagte er hastig, als er von einem herantorkelnden Mann unterbrochen wurde.
„Hale!“, rief dieser lallend aus. Fred erstarrte. „Sind Sie es nicht? Sieh mal an, ich wusste doch, dass Sie es sind.“ Leonards zeigte mit dem Finger auf ihn.
„Ich heiße nicht Hale“, antwortete Fred abwehrend und trat einen Schritt zurück. „Hören Sie, ich bin nicht Hale“, sagte er noch einmal und stieß Leonards Arm zurück, als dieser ihn an der Brust berührte.
Danach überstürzten sich die Ereignisse. Margaret schrie „Aufhören!“, und wollte sich zwischen die beiden mittlerweile kämpfenden Männer stellen. Leonards gab ihr einen harten Stoß, Margaret torkelte, verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten. Noch im Fallen fühlte sie zwei starke Arme, die sich um sie legten und ihren Sturz auffingen.

Als sie panisch aufblickte, sah sie in zwei blaue Augen, die ernst auf ihr ruhten. „Mr. Thornton“, stieß sie keuchend hervor.
„Sind sie verletzt?“, fragte er kühl. Er hatte die Augenbrauen zusammen gekniffen und auf seiner Stirn bildeten sich Falten.
„Nein – nein, mir geht es gut, ich danke Ihnen“, sagte Margaret hastig und wandte sich wieder den beiden Kampfhähnen zu. Leonards hatte Fred inzwischen an die Wand gedrängt und hielt seine Kehle fest umklammert.

„Kann ich den beiden Gentlemen behilflich sein?“ Johns kalte, dunkle Stimme schreckte Leonards auf, er ließ von Fred ab und verschwand in der Dunkelheit, nicht ohne Fred noch einen verhassten Blick zuzuwerfen.
„Sie sind Thornton?“, keuchte Fred nach Atem ringend und rieb sich den Hals. „Ich habe in den vergangenen Tagen viel Gutes von Ihnen gehört.“

John sah fragend von Fred zu Margaret. Fred steckte seine Hand aus.
„Ich bin Frederick Hale.“ Sein Gegenüber ergriff die dargebotene Hand und erwiderte den Händedruck.
„Freut mich ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte John und sein Gesicht hellte sich auf.
„Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite“, antwortete Fred. In diesem Moment ertönte die Pfeife des Schaffners.
„Fred!“, rief Margaret.
„Vielen Dank für Ihre Hilfe! Würden Sie mir einen Gefallen tun und meine Schwester nach Hause begleiten, sofern es ihre Zeit zulässt?“, fragte er schnell. „Ja, natürlich“, erwiderte John. Fred umarmte Margaret nochmals und stieg in das Zugabteil. Durch das geöffnete Fenster küsste er Margaret zum Abschied. „Ich liebe Dich kleine Schwester!“, sagte er noch, bevor sich der Zug mit lautem Quietschen in Bewegung setzte.

Blind vor Tränen stand Margaret winkend am Bahnsteig und sah zu, wie die Waggons nach und nach ihrem Blick entschwanden.
„Kommen Sie, Miss Hale, ich bringe Sie nach Hause.“, sagte John sanft und bot Margaret seinen Arm.
„Danke“, flüsterte Margaret und hakte sich bei Thornton unter. „Für alles.“

Der Weg nach Hause verlief zunächst schweigend. Als Margaret sich wieder etwas gefangen hatte, wandte sie sich an John.
„Mr. Thornton, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig.“ John blieb stehen und sah Margaret geradewegs in die Augen.
„Ich gestehe, ich bin überrascht und verwirrt, Sie oder Ihr Vater haben niemals erwähnt, dass Sie einen Bruder haben?“ John hob fragend die Augenbrauen.
„Wir reden nicht über ihn“, antwortete Margaret leise und erzählte John stockend die ganze Geschichte.
„Es war so dumm von mir, ihn zu bitten nach England zu kommen. Wenn er gefasst worden wäre - der Galgen wäre ihm sicher gewesen!“ Bei dem Gedanken vergrub Margaret das Gesicht in ihren Händen.

John legte seine Hand auf ihren Arm. So sehr er sich die letzten Wochen bemüht hatte, weniger an sie zu denken, sie nicht mehr zu lieben, so liebte er sie doch mehr denn je. In dem Moment, als er Margaret mit dem Fremden am Bahnsteig gesehen hatte, hatte die Eifersucht wie eine eiskalte Hand nach seinem Herz gegriffen. Das Gefühl nach seinem Antrag, den sie abgelehnt hatte, war nichts gegen den stechenden Schmerz, den er verspürte, als er sie in den Armen eines anderen Mannes gesehen hatte. Seinem ersten Impuls zum Trotz war er nicht sofort weiter gegangen, sondern hatte, sich selbst damit quälend, die Szene beobachtet. Er dankte Gott für diese Entscheidung, hätte er sonst jemals erfahren, dass es sich bei dem Unbekannten keineswegs um Margarets Liebhaber, sondern um ihren Bruder handelte?

„Sie haben gehandelt, wie Ihr Herz es Ihnen befahl! Ich wünschte…“ Margaret sah auf, als er den Satz unvollendet ließ. Seine Augen waren auf sie gerichtet. „Miss Hale, warum haben Sie mir nie von Ihrem Bruder erzählt? War Ihnen nicht bewusst, dass das Geheimnis bei mir sicher wäre?“
„Mr. Thornton, ich bin mir Ihrer Verschwiegenheit und auch Ihrer Verbundenheit meinem Vater gegenüber sehr bewusst, aber Sie sind der Magistrat! Fred gilt in England als flüchtiger Meuterer und es wäre Ihre Pflicht gewesen, ihn zu melden. Ich hätte es nicht ertragen, wenn Sie unseretwegen in Gewissenskonflikte geraten wären.“

John sah Margaret lächelnd an. „Ich verspreche Ihnen, dass sie sich um mein Gewissen keine Sorgen zu machen brauchen.“ Sie setzen ihren Weg wieder fort.
„Gibt es etwas, dass ich für Sie oder Ihren Vater tun kann?“, seine Stimme klang unbeteiligt.
„In der Tat“, antwortete Margaret. „Mein Vater vermisst sehr die Gespräche mit Ihnen, und jetzt nach Mutters Tod….“. Sie schluckte.
„Ich weiß, dass ich kein Recht habe, Sie darum zu bitten, nach allem was geschehen ist….“. Wieder hielt Margaret inne. Johns Gesicht glich einer Maske.
„Ich vermisse die Gespräche mit Ihrem Vater ebenfalls.“ Seine Stimme war fast ein Flüstern. Den restlichen Weg zum Haus der Hales legten sie ohne weitere Kommunikation zurück. Beide waren in ihre eigenen Gedanken vertieft.

Margaret zitterte leicht. Sie konnte nicht sagen, ob die Situation und die damit verbundene Angst um Fred, oder der Mann neben ihr die Ursache war. Zweifelsohne hatten sich ihre Gefühle Mr. Thornton gegenüber gewandelt. Sie schätzte ihn, sie mochte ihn, sie mochte seine Nähe, seine Stimme, seinen Blick, seine unglaublich blauen Augen, ja sie mochte inzwischen sogar dieses ernste, fast finster blickende Gesicht, wenn er die Augenbrauen zusammenkniff und sich auf seiner Stirn Falten bildeten. Sie dachte zurück an ihre erste Begegnung in der Fabrik. Wie konnte sie ihn jemals für einen Händler gehalten haben? Wie unrecht hatte sie ihm getan! Und wie grob hatte sie seinen Antrag zurückgewiesen, der, wie sie inzwischen erkannt hatte, aus tiefster Liebe gemacht worden war. Tränen traten in ihre Augen, als sie an die Verzweiflung dachte, die aus seinen Augen gesprochen hatte, als er danach das Haus verlassen hatte. Wie verbittert seine Stimme geklungen hatte! Wie gerne hätte sie ihm jetzt gesagt, dass sie unrecht gehabt hatte, dass er ein wunderbarer Mann war und es ihr unendlich Leid tat - doch sie schwieg.

John brachte kein Wort über die Lippen! Er hatte Angst, etwas Falsches zu sagen, Angst, dass sie ihn wieder missverstehen könnte. Er wollte nicht riskieren, dass der Zauber brach. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie mehr als nur zwei belanglose Sätze miteinander gesprochen hatten. Er wollte ihre Anwesenheit so lange wie möglich genießen, ihre Hand auf seinem Arm spüren, deren Wärme er durch den Stoff hindurch fühlen konnte. All die Wochen hatte er versucht, sie aus seinem Herzen zu verbannen, sein Leben so weiterzuführen, wie es vorher war, nur um heute Abend festzustellen, dass all seine Bemühungen umsonst gewesen waren, er sie mehr liebte als je zuvor. Doch es gesellte sich ein neues – wenn auch sehr kleines – Gefühl hinzu: Hoffnung! Die Blicke, die er von Margaret heute Abend aufgefangen hatte, ließen ihn hoffen. Er würde jedoch nicht noch einmal den gleichen Fehler begehen, er würde warten, auch wenn er hierfür seine ganze Selbstbeherrschung aufbringen musste.

Am Haus der Hales angekommen, verabschiedeten sie sich voneinander und nach einem nochmaligen Dank seitens Margaret, verschwand John mit einem knappen Nicken in der Dunkelheit.
Margaret sah ihm lange nach, bevor sie sich umdrehte und das Haus betrat.
End Notes:

Ich möchte ganz besonders Becci und Tatty fürs Korrekturlesen und für die vielen Tipps und Anregungen danken!

Kapitel 2 - Boucher by Jule
Author's Notes:

Einige Szenen werden euch sehr bekannt vorkommen, da sie quasi fast eine Nacherzählung sind. Damit bin ich zwar nicht wirklich glücklich, aber es sind Schlüsselszenen, die für den weiteren Verlauf der Beziehung zwischen MH und JT wichtig sind.

Die nächsten beiden Tage vergingen, und Margaret hatte bei all der Trauer um ihre verstorbene Mutter kaum Zeit, um an John zu denken.

Am Tag der Beerdigung saß sie neben Mr. Bell in einer der vorderen Kirchenbänke. Traurig blickte sie zu ihrem Vater hinüber, der seinen Blick starr auf einen imaginären Punkt gerichtet hatte. Sein Gesicht glich einer ausdrucklosen Maske, in seinem Innersten jedoch war tiefste Verzweiflung.
Margaret sah sich in der spärlich besetzten Kirche um und wandte ihr Gesicht Mr. Bell zu.
„Wenn wir in Helstone wären Mr. Bell, wäre die Kapelle voll mit Mutters Freunden“, flüsterte sie traurig.
„Ja, aber sieh doch!“, antwortete er und wandte seinen Blick in Richtung der hinteren Reihen. Margaret folgte seinem Blick und erkannte Mary und Nikolas Higgins. Sie nickte Vater und Tochter dankbar zu und drehte ihren Kopf in die andere Richtung. John sah ebenfalls zu ihr und ihre Blicke trafen sich. Sie verspürte in diesem Moment tiefe Verbundenheit zu ihm und eine einsame Träne rann ihre Wange hinab, bevor sie sich wieder abwandte.

John war erschüttert von der tiefen Traurigkeit, die aus Margarets Augen sprach. Es kostete ihn all seine Kraft, um nicht aufzuspringen und zu ihr zu gehen. Ihr zu zeigen, dass er da war, für SIE da war.
„Wie geht es ihnen, Miss Hale und ihrem Vater?“, fragte er nachdem er die Kirche verlassen und sich zu Adam Bell gesellt hatte.
„Es geht ihnen den Umständen entsprechend. Keine Sorge Thornton, man kümmert sich um sie.“
„Gibt es etwas, was ich tun kann?“ Johns Blick ruhte auf Margaret.
„Nein, es ist alles erledigt, aber ich werde es Sie sicher wissen lassen, wenn Sie gebraucht werden“, erwiderte Bell und trat nach einem kurzen Nicken des Abschieds auf seinen alten Freund und dessen Tochter zu.
Hilflos blickte John der kleinen Gruppe nach, die sich langsam und schweigend von der Kapelle entfernte.

Margaret war froh darüber, dass es Mr. Bell möglich war, noch einige Tage länger in Milton zu bleiben. Sie machte sich große Sorgen um ihren Vater. Er hatte seit dem Tod seiner Frau kaum ein Wort gesprochen und Mr. Bells Besuch schien ihn zumindest ein wenig abzulenken.
Und so ließ Margaret ihren Vater in der Obhut von Mr. Bell zurück und machte sich auf den Weg nach Princeton.

Der Spaziergang würde ihr gut tun, und tatsächlich, mit jedem Schritt merkte sie, wie ihr Kopf freier wurde.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Sofort tauchte Johns Bild in ihrem Geiste auf. Ihr Herz schlug augenblicklich schneller. Sie öffnete die Augen wieder und versuchte energisch das Bild zu vertreiben. Warum nur drängte sich dieser Mann immer wieder in ihre Gedanken? Er war ein guter Freund ihres Vaters, nicht mehr und auch nicht weniger. Sie war nie um seine Freundschaft bemüht gewesen und seine Liebe hatte sie nicht gewollt, wollte sie immer noch nicht – oder vielleicht doch? Über seine Liebe zu ihr musste sie sich ohnehin keine Gedanken mehr machen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass er noch Gefühle für sie hatte, die über gewöhnliche Nächstenliebe oder Anteilnahme hinausgingen. Margaret versuchte den Schmerz, den sie bei diesem Gedanken verspürte, zu ignorieren.

„Ich hatte gehofft, Dich um diese Zeit hier anzutreffen“, sagte Margaret nach einem kurzen Gruß.
„Du kannst Dir sicher sein, mich fast zu jeder Zeit hier anzutreffen“, antwortete Higgins und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar.
„Du hast immer noch keine Arbeit?“, fragte Margaret „Wegen des Streiks?“
„Ich habe keine Arbeit, weil ich mich dazu entschieden habe“, erklärte Higgins.
„Hast Du schon in deiner alten Fabrik nachgefragt?“
„Hamper weiß, dass ich ein guter Arbeiter bin. Er würde mich zurück nehmen, aber es gibt eine neue Regel, wir dürfen nicht an die Gewerkschaft zahlen. Wir zahlen ein, damit wir eine Streikkasse haben, um denen in Not wenigstens einen Schilling pro Streikwoche geben zu können. Sie denken sich, wenn wir nicht zahlen dürfen, gibt es keine Streiks mehr. Wir bitten die Herren nicht einen Streik zu finanzieren, so töricht sind wir nicht. Aber ist es ein Verbrechen, seinen Leuten etwas vom eigenen Gehalt zu schenken?“

„Gibt es in allen Fabriken diese neue Regel?“, wollte Margaret wissen.
Higgins nickte traurig.
„Weißt Du noch, wie Boucher sagte, die Gewerkschaft sei eine Tyrannei?“
Higgins lachte höhnisch „Manchmal muss die Gewerkschaft einen Mann zu seinem Glück zwingen.“ Er setzte sich auf einen Stuhl neben dem Kamin.
„Boucher war ein Dummkopf. Er wusste nie, was gut für ihn ist.“
„War er schlecht für die Gewerkschaft?“, fragte Margaret.
„Wir hatten die öffentliche Meinung auf unserer Seite, bis er anfing, das Gesetz zu brechen und zu randalieren.“
„Wäre es nicht besser gewesen ihn in Ruhe zu lassen?“, unterbrach ihn Margaret „Er hat der Gewerkschaft nicht genützt, und ihr habt ihn wahnsinnig gemacht!“

Higgins sah Margaret einige Momente an, bevor er antwortete. „Du verstehst das alles nicht. Die Gewerkschaft hat erheblichen Einfluss. Die Gewerkschaft ist die einzige Macht, die wir haben. Ich rede lieber nicht darüber. Ich kann nicht anders als wütend auf Boucher zu sein, weil dieses Unheil kein Ende nimmt“ Higgins atmete verächtlich aus.
„Immer noch?“, fragte Margaret erstaunt.
„Sicher!“, nickte Higgins „Erst beginnt er einen Aufruhr, dann versteckt er sich. Thornton verfolgt ihn nicht, also schleicht er sich wieder nach Hause, und was tut er? Er geht zu Hamper, bettelt um Arbeit, auch wenn das bedeutet auf die Gewerkschaftsbeiträge zu verzichten“ Higgins Stimme klang bitter „Um Hamper gegenüber fair zu sein, er hat ihm keine gegeben. Er hat ihn fortgejagt, obwohl es heißt, er hätte wie ein Baby geweint.“

Higgins senkte seufzend den Kopf. Margaret sah betroffen auf ihre Hände hinab.
„Wo ist Mary?“, wollte Margaret wissen.
„Sie ist bei den Bouchers drüben“, erwiderte Higgins. „Boucher ist seit dem Tag, als er bei Hamper war, nicht mehr aufgetaucht. Kein Mensch weiß, wo er ist, auch seine Frau nicht. Sie ist krank und sehr schwach, und die Kinder sind hungrig. Mary hilft so gut es geht und bringt Essen vorbei.“
„Nikolas, reicht es denn dann noch für Euch?“
„Es muss!“, war seine knappe Antwort.
„Nein, Margaret, ich werde kein Geld von Dir annehmen!“, ergänzte er schnell und schüttelte den Kopf, als er erkannte, was sie vorhatte.

Als Margaret das Haus von Higgins verließ, trugen vier Männer eine Bahre. Darauf lag ein Mann, vollständig bedeckt mit einem weißen Tuch, nur die schmutzigen Füße waren zu sehen.
„Wir haben ihn im Kanal bei Ashley gefunden“, sagte einer der Männer.
„Im Kanal?“ Margaret sah erschreckt auf.
„Ja, alles deutet darauf hin, dass er sich das Leben genommen hat“, antwortete der Träger.
„Es ist Boucher“, sagte eine tiefe Stimme und erst jetzt erkannte Margaret John, der den Trägern gefolgt war.
„Das kann nicht Boucher sein, er hätte nie den Mut, sich etwas an zutun“, erklang Higgins Stimme. Er trat auf den Toten zu und zog das Tuch von dessen Gesicht. Higgins wich leichenblass zurück, als er das violette und leblose Gesicht von Boucher erblickte. Die toten, weit geöffneten Augen starrten leer in den Himmel.
Margaret blickte entsetzt auf den Toten.

„Warum hat Papas Gesicht so eine komische Farbe?“
Niemand hatte den Jungen bemerkt, der auf seinen toten Vater blickte. Margaret zog den Jungen an sich, weg vom Anblick seines Vaters.
„Das Wasser aus den Bleichtrögen fließt in den Kanal“, sagte John zu Margaret. gewandt „Higgins, Sie kannten ihn. Sie müssen gehen und es seiner Frau sagen. Jetzt gleich, wir können ihn hier nicht liegen lassen!“
„Ich kann nicht!“ Higgins schüttelte den Kopf, seine Stimme war brüchig. „Ich kann das nicht.“
„Ich gehe“, sagte Margaret tonlos, griff nach der Hand des Jungen und setzte sich in Bewegung.
„Warten Sie Miss Hale, ich werde Sie begleiten.“ John folgte ihr.

John konnte nicht anders, er bewunderte Margaret aus tiefstem Herzen. Selbst jetzt, in einer Zeit, in der sie um ihre verstorbene Mutter trauerte, war sie noch bemüht, anderen zu helfen.
Mary öffnete die Tür, als John dagegen klopfte. Überrascht sah sie von John zu Margaret und umarmte letztere freundschaftlich.
„Wo ist Mrs. Boucher?“, fragte Margaret.
„Sie schläft endlich“, antwortete Mary und blickte Margaret besorgt an „Was ist passiert?“
„Man hat Boucher gefunden, er ist tot.“, flüsterte Margaret und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Mary hielt entsetzt die Hand vor den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken.
„Gewissheit gibt es zwar erst, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, aber wir haben den Verdacht, dass er sich im Kanal ertränkt hat“, fügte John leise hinzu.
„Sie wird es nicht verkraften.“ Marys Stimme war ein Flüstern und sie ließ sich zitternd auf einen der Stühle sinken. „Sie ist durch ihre Krankheit ohnehin schon geschwächt.“ Sie schloss traurig die Augen.
„Wir müssen es ihr sagen, Mary.“, Margaret legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens.
„Was müssen Sie mir sagen?“, erklang eine brüchige Stimme. Mrs. Boucher stand im Türrahmen, keiner hatte sie bemerkt. Sie blickte von einem zum anderen und kam mit schleppendem Schritt näher.
Kaum hatten Margaret und John Mrs. Boucher vom Tod ihres Mannes unterrichtet, stürzte diese mit einem Aufschrei aus dem Haus und lief weinend auf die Bahre zu.
„Nein! Nein!“, schrie sie. „Er hat uns alle geliebt, und wir ihn.“
Mrs. Boucher streichelte das Gesicht ihres Mannes. „Und ich habe so schreckliche Dinge über ihn gesagt“, ihre Stimme war tränenerstickt „…noch vor einem Moment. Was sollen wir nur ohne ihn tun?“
Margaret fühlte Johns Hand auf ihrem Arm. Sie wandte ihren Blick von Mrs. Boucher ab und sah zu Mary hinüber, die beschützend ihre Arme um den kleinen Tom geschlungen hatte und stumme Tränen weinte.

Nur wenige Tage später folgte Mrs. Boucher ihrem Mann in den Himmel – und ließ ihre sechs Kinder zurück. Sie wurde hoch über der Stadt beerdigt, in der frischen Luft. Ihr irdischer Kampf und ihre Sorgen waren für immer vorbei. Wie viel schwerer nun für jene, die zurück gelassen wurden und trauerten.
End Notes:
Danke an Tatty und Becci für's unermüdliche Beta-Lesen!
Kapitel 3 - Begegnungen by Jule
In den kommenden Wochen war John ein häufiger und gern gesehener Gast im Hause der Hales. Margaret war ihm unendlich dankbar, merkte sie doch, wie gut ihrem Vater seine Gesellschaft tat. Nach dem Tod ihrer Mutter war ihr Vater sehr niedergeschlagen gewesen, inzwischen konnte sie ihn sogar wieder zu kleineren Spaziergängen überreden.
So auch an diesem Tag. Sie waren auf dem Weg nach Princeton. Der Winter war bereits in vollem Gange und obwohl die Sonne schien bildeten sich bei jedem Atemzug kleine Wölkchen. Margaret hatte sich bei ihrem Vater untergehakt und blickte ihn von der Seite an.
„Wie fühlst Du dich, Vater?“, fragte sie liebevoll.
Mr. Hale schien einen kurzen Augenblick zu überlegen.
„Gut“, antwortete er fast erstaunt. „Ich fühle mich wirklich gut.“
Margaret lächelte und drückte den Arm ihres Vaters.
„Ich bin sehr erleichtert Vater, nachdem Mutter….“, sie verstummte.
Er drückte Margarets Hand: „Mach Dir keine Sorgen um mich. Ich weiß nicht, ob ich den Tod Deiner Mutter jemals überwinden werde, aber ich habe in den vergangenen Wochen gelernt mit der Leere, die sie zurück ließ, zu leben. Es vergeht jedoch kein Tag, an dem ich nicht an sie denke und ich mir wünschte, ich hätte ihr all den Kummer ersparen können.“
Ein Schatten legte sich über Mr. Hales Gesicht.

„Geh nicht so hart mit Dir ins Gericht, Vater. Du bist nicht schuld an Mutters Tod, sie war krank.“
Mr. Hale tätschelte die Hand seiner Tochter und schwieg.
„Was machen Mr. Thorntons Studien?“, fragte Margaret schnell, um das Thema zu wechseln.
Mr. Hales Gesicht hellte sich auf: „Oh, John ist ein wunderbarer Schüler, ich genieße die Stunden mit ihm sehr. Ich bin glücklich darüber, dass er neben der Arbeit doch noch Zeit hat, das Studium so intensiv weiterzuführen. Er hat mir sehr viel Halt gegeben in den letzten Wochen! Er ist fast wie ein Sohn für mich geworden.“
Margaret freute sich über die Begeisterung, die aus ihrem Vater sprach und lächelte. Schweigend setzten sie ihren Spaziergang fort und waren einige Zeit später in der Frances Street angekommen.

Mary hatte Vater und Tochter bereits aus dem Fenster erblickt und öffnete die Tür, bevor Margaret klopfen konnte.
„Miss Margaret!“, rief Mary aus „… wie schön Sie zu sehen“ Margaret umarmte Mary und lächelte sie an. Das Mädchen sah müde und erschöpft aus.
„Wie geht es Dir?“, erkundigte sich Margaret besorgt.
„Nur etwas müde, Miss, die Kinder halten mich ganz schön auf Trab.“
Margaret sah sich im Raum um. Im Zimmer tummelten sich vier der Boucher-Kinder. Higgins hatte sich nicht davon abbringen lassen, die Waisen bei sich aufzunehmen, auch wenn er selbst keinen Schilling besaß.
Margaret brachte von Zeit zu Zeit einen Korb vorbei: „Für die Kinder“, sagte sie jedes Mal, wenn Higgins das bisschen Brot, Käse und Fleisch nicht annehmen wollte.

Widerwillig ließ er es auch diesmal zu, dass Margaret den mitgebrachten Korb auf den Tisch stellte. „Hattest Du schon Glück, Nicholas?“, fragte Margaret, nachdem sie und ihr Vater sich Higgins gegenüber an den Tisch gesetzt hatten. „Ich hab’ nach Arbeit gesucht“, erwiderte er seufzend. „Ich habe meine Zunge im Zaum gehalten und mich nicht darum geschert, wer mir was an den Kopf schmeißt. Ich mache es für ihn natürlich, nicht für mich, für Boucher. Nun - nicht für ihn…“ Higgins kniff die Augen zusammen und sah zu Boden, „…da wo er jetzt ist, braucht er meine Hilfe nicht, aber für seine Kinder.“
Er blickte zu Tom hinüber, der zusammen mit Mary am Boden saß und laut und stockend in einem Buch las.
„Aber ich brauche Ihre Hilfe, wenn sie gestatten“, fuhr er an Mr. Hale gewandt fort.
„Gern“, erwiderte Mr. Hale schnell „aber was kann ich tun?“
„Also, Ihre Tochter hat viel über den Süden geredet“, Higgins sah zu Margaret.
„Ich weiß nicht, wie weit es ist, aber ich dachte, wenn ich dort hin könnte, wo das Essen billig und der Lohn gut ist und die Menschen freundlich. Würden Sie mir helfen, dort Arbeit zu finden?“
„Welche Art Arbeit denn?“, fragte Mr. Hale.
„Ich bin recht gut mit dem Spaten“, antwortete Higgins.

„Du darfst nicht von Milton in den Süden ziehen!“, mischte sich Margaret in das Gespräch ein und griff über den Tisch hinweg nach Higgins Arm: „Du könntest das Leben dort nicht ertragen, Nicholas, ich bitte Dich.“
Higgins sah betroffen zu Boden.
„Nicholas, hast Du in Marlborough Mills nach Arbeit gefragt?“
Higgins lachte trocken auf.
„Ja, ich war bei Thornton. Williams, der Vorarbeiter, hat mich rausgeschmissen.“
„Würdest Du es noch einmal versuchen? Mr. Thornton ist ein guter Mensch“, Margarets Augen waren bittend auf Higgins gerichtet: „Ich wäre so froh, wenn Du das tun würdest. Ich bin sicher Mr. Thornton wird Dich gerecht behandeln, wenn er die Chance bekommt.“
„Ich kann nicht betteln, Miss“, antwortete Higgins und wandte sein Gesicht ab.
„Ich glaube lieber verhungere ich“, ergänzte er einige Augenblicke später.
„Soll ich mit Mr. Thornton reden?“ bot Margaret an.
Higgins hob erstaunt den Kopf.
„Nein!“, wehrte er bestimmt und kopfschüttelnd ab.

„Er ist ein stolzer Mann“ seufzte Mr. Hale, nachdem sie später das Haus von Higgins verlassen hatten. „Dennoch, diese Männer von Milton haben Qualitäten, die Bewunderung verdienen. Vielleicht hat Gott zu guter Letzt doch noch hierher gefunden.“
„Ich wünschte er würde zu Mr. Thornton gehen und mit ihm von Mann zu Mann reden.“ Margaret blickte zu ihrem Vater auf.
„Wenn er nur vergessen könnte, dass Mr. Thornton ein Fabrikant ist. Ich bin mir sicher, er würde sein Herz erreichen!“
„Meine Güte, Margaret!“ Mr. Hale sah seine Tochter erstaunt an. „Du gibst fast in einem Atemzug zu, dass der Süden seine Fehler und Mr. Thornton seine Vorzüge hat. Was ist geschehen, dass Du Deine Meinung so geändert hast?“
Margarets Wangen überzogen sich mit einer zarten Röte. Sie blieb ihrem Vater die Antwort schuldig.

Higgins saß noch lange am Tisch und dachte über das nach, was Margaret gesagt hatte. Er wollte nicht nach Marlborough Mills und sich noch einmal eine Abfuhr abholen. Dann fiel sein Blick auf die Kinder. Mary hatte Margarets Korb ausgepackt und verteilte die Speisen an die Kinder, die sich hungrig über jeden Krümel hermachten. Er stützte verzweifelt seinen Kopf in die Hände. Abrupt stand er auf, griff nach seiner Jacke und seiner Mütze und verließ wortlos das Haus. Er rannte fast den Weg nach Marlborough Mills. Dort angekommen, lehnte er sich schwer atmend an eine Hausmauer. Er wartete – worauf, wusste er selbst nicht so genau.

Higgins wartete etwa eine Stunde, bis John um eine Straßenecke bog und auf die Fabrik zuging.
„Sir!“ rief Higgins ihm zu.
John drehte sich erstaunt um. „Sie?“, er blickte Higgins kühl an.
„Ich muss mit Ihnen reden“, sagte Higgins bestimmt.
„Dann kommen Sie besser rein!“, forderte John ihn auf und ging über den Fabrikhof, dicht gefolgt von Higgins.

John hatte an seinem Schreibtisch Platz genommen und sah einige Papiere durch. Unsicher blieb Higgins im Türrahmen stehen und knetete nervös seine Mütze.
John legte das Papier zur Seite, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Higgins: „Also, was wollen Sie von mir?“
„Ich möchte arbeiten“, Higgins presste die Lippen zusammen.
„Arbeiten!“, John lachte trocken: „Sie haben Nerven!“ Er kniff verärgert die Augenbrauchen zusammen.
„Hamper wird Ihnen sagen, dass meine Arbeit gut ist“, entgegnete Higgins.

„Hamper wird aber noch mehr über Sie sagen, dass Sie nicht hören wollen! Ich habe hundert meiner besten Hände verloren, weil sie Ihrer Gewerkschaft gefolgt sind“, John sah Higgins zornig an.
„Ich brauche Arbeit! Für die Familie eines Mannes, der verrückt geworden ist. Seine Arbeit ging an einen Iren, den Sie eingestellt haben, der einen Webstuhl nicht von einem Hocker unterscheiden kann.“
„Ihre Gewerkschaft hat mich dazu gezwungen, die Iren einzustellen!“, fiel ihm John ins Wort: „Die meisten sind wieder zurückgegangen.“
John erhob sich und wanderte durch das Büro, eine Hand auf die Hüfte gestützt, mit der anderen rieb er sich die Stirn.

„Ich rate Ihnen, sich nach etwas anderem umzusehen und Milton zu verlassen“, John setzte sich wieder und beugte sich erneut über ein Schriftstück.
„Wenn es wärmer wäre, würde ich Feldarbeit machen und nie wieder zurückkommen, aber es ist Winter und die Kinder werden verhungern.“
Was tat er nur hier? Er hätte sich niemals von Margaret dazu überreden lassen dürfen, zu Thornton zu gehen.

„Wenn Sie irgendetwas wissen, ich würde jeden Lohn nehmen, den ich kriegen könnte, nur um der Kinder willen“, Higgins seufzte und sah zu Boden.
John sah überrascht auf: „Sie würden das tatsächlich für einen Mann wie Boucher tun? Sie wissen von der neuen Regel, denke ich?“
„Boucher ist tot und es tut mir Leid für ihn, aber das ist auch alles. Mir geht es einzig und allein um die Kinder.“
John sah Higgins lange nachdenklich an.

„Gut.“ John erhob sich von seinem Stuhl. „Ich werde es vielleicht bereuen, aber ich gebe Ihnen die Arbeit.“
Higgins blickte erstaunt auf. „Ich danke Ihnen, Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich!“, schwor Higgins und griff nach Johns dargebotener Hand.
„Dann ist es abgemacht. Also kommen Sie pünktlich.“ John trat näher an Higgins heran, „Und beim ersten Mal, wenn ich Sie dabei erwische, wie Sie Ihr Hirn benutzen, können Sie gehen.“
„Dann lasse ich meinen Kopf wohl besser zu Hause.“ Higgins Mundwinkel zuckten. Er war schon im Begriff, das Büro zu verlassen, als er sich nochmals zu John umdrehte.

„Ich wurde von einer Frau hergeschickt, die mir sagte, dass Sie Güte besitzen. Ich freue mich, dass sie sich nicht geirrt hat“, Higgins lächelte.
Thornton hob erstaunt den Kopf.
„Miss Hale hat Sie zu mir geschickt?“, er hob eine Augenbraue.
„Sie hätten es mir ruhig sagen können.“
Higgins verzog sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Wären Sie dann zu Anfang unseres Gespräches freundlicher zu mir gewesen?“, fragte er amüsiert und verließ das Büro.

John sah auf die Uhr und sprang hastig von seinem Stuhl auf. Wenn er sich nicht beeilen würde, käme er zu spät zu Mr. Hale und er musste sich noch umziehen. Er freute sich darauf, Margaret wieder zu sehen. Sie hatte ihrem Vater und ihm in den vergangenen Wochen den einen oder anderen Abend Gesellschaft geleistet. Er konnte sich an keine einzige Unterhaltung mehr erinnern, die er mit Mr. Hale geführt hatte, so gefangen war er von Margarets Anblick. Er liebte es, wenn sich ihre Wangen vor Begeisterung röteten, ihre Augen blitzten, wenn sie überzeugt ihre Meinung vertrat, sie ihre Hände im Schoß gefaltet hielt, wenn sie über etwas nachdachte. Er würde nie eine andere Frau lieben, dessen war er sich sicher. Bevor er sie getroffen hatte, gab es nur die Fabrik für ihn. Frauen hatten in seinem Leben niemals eine Rolle gespielt, selbst in seiner Jugend nicht. Für derlei Dinge war kein Platz in seinem Leben. Erst recht nicht, nachdem sein Vater tot war und es an ihm lag, sich um die Familie zu kümmern. Er hatte sich bereits als ewigen Junggesellen gesehen, viele seiner Geschäftsfreunde waren Junggesellen, allesamt angesehene Geschäftsmänner.
Doch dann war Margaret in sein Leben getreten und hatte in ihm den Wunsch nach einer eigenen Familie, nach eigenen Kindern geweckt.
Kapitel 4 - Ein neuer Feind by Jule
John hatte seinen Hut abgenommen und klopfte, als er in Crampton angekommen war. Es war Margaret, die ihn mit einem warmen Lächeln empfing und ihn herein bat. Sie hielt kurz inne, als sie die Tür hinter John schließen wollte und ihr Blick fiel auf die gegenüberliegende Straßenseite. Sämtliche Farbe wich aus Margarets Gesicht und sie verkrampfte sich. John blieb die Regung nicht verborgen und er folgte ihrem Blick.
„Wer ist das?“, er hob fragend eine Augenbraue.
„Erinnern Sie sich an den Abend, als ich meinen Bruder zum Bahnhof brachte?“ Margaret schloss die Tür und drehte sich zu John um.

Natürlich erinnerte er sich daran, wie konnte er diesen Abend jemals vergessen.
Er nickte. „Das ist der Gentleman, der meinen Bruder angegriffen hat“, sie sprach das Wort Gentleman verächtlich aus: „Sein Name ist Leonards. Er wohnte früher nicht weit entfernt von Helstone. Schon damals hat er seine Nase in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen und ich glaube nicht, dass sich das in den vergangenen Jahren geändert hat.“
„Ist Ihr Bruder in Sicherheit?“, wollte John wissen.
„Ja, er ist wohlbehalten zurück in Spanien“, antwortete Margaret.
„Dann droht ihm von diesem Mann keine Gefahr, machen Sie sich keine Sorgen!“, sagte John und drückte aufmunternd Margarets Hand.
„Ich weiß“, erwiderte sie leise und sah zu Boden. Ihre Hand lag immer noch in Johns, sie hatte sie ihm nicht entzogen.
Johns Herz schlug schneller.
„Miss Hale, ich…“, seine Stimme klang heiser. Margaret hob den Kopf und sah in sein Gesicht.

„John? Sind Sie das? Kommen Sie hoch!“, rief Mr. Hale seinem Besucher zu.
John hob Margarets Hand an seine Lippen und hauchte einen zarten Kuss auf ihren Handrücken. Danach drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und ließ Margaret verwirrt und leicht zitternd zurück.

Als Margaret aus ihrer Erstarrung erwachte, lief sie hastig in ihr Zimmer. Mit glühenden Wangen ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und schloss ihre Augen. Sie fühlte immer noch die Berührung seiner Lippen auf ihrer Hand. Was war nur mit ihr los? Warum reagierte sie so auf ihn?
„Ich muss hier raus“, dachte sie. Margaret zog sich an und öffnete die Eingangstür einen kleinen Spalt. Leonards war nicht mehr zu sehen. Hastig schlüpfte sie hinaus. Sie hatte kein bestimmtes Ziel, sie lief einfach immer nur geradeaus. Bald schon hatte sie Crampton hinter sich gelassen und fand sich, zu ihrer eigenen Überraschung, in Princeton wieder.

Unentschlossen blieb sie stehen. Es fing bereits an zu dämmern und sie sollte schleunigst wieder zurück. Sie hatte völlig überstürzt das Haus verlassen und weder Dixon noch ihrem Vater Bescheid gesagt, beide würden sich inzwischen sicher entsetzliche Sorgen machen. Sie ging gerade durch eine der Einkaufstraßen zurück, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief.

„Miss Hale!“, Margaret drehte sich um und Fanny Thornton winkte ihr strahlend zu. Am Ringfinger ihrer linken Hand prangte ein Diamantring. Sie wedelte mit ihrer Hand in Margarets Richtung und kicherte übermütig.
„Oh, darf ich Ihnen gratulieren?“, fragte Margaret nach einem kurzen Gruß.
„Ja, wir werden bald heiraten!“, Fanny deutete auf den Mann neben sich.
„Ich freue mich Sie wieder zu sehen, Miss Hale“, begrüßte sie Watson freundlich und reichte Margaret die Hand.
„Falls sie noch etwas einkaufen möchten, beeilen sie sich lieber, mein Mädchen hier ist gerade dabei die ganze Straße leer zu kaufen“, schmunzelte Watson.

Fanny lachte laut auf und rückte näher an Margaret heran.
„Er ist vielleicht schon etwas älter, aber eine gute Partie für uns Thorntons“, flüsterte sie mit leiser verschwörerischer Stimme Margaret zu: „Er hat versucht, John für eine Spekulation zu gewinnen.“
„Spekulation?“, fragte Margaret überrascht. „Ich hätte nicht gedacht, dass Mr. Thornton sich beteiligen würde an solch einem riskanten Unternehmen!“
„Oh, jeder macht so was. Jedes Geschäft ist ein Risiko, sagt mein Watson immer.“ Margaret enthielt sich einer Antwort und war erleichtert, als das Paar sich von ihr verabschiedete. Eilig setzte sie ihren Nachhauseweg fort.

„Margaret, wo bist Du nur gewesen?“ Mr. Hales Stimme klang aufgeregt.
„Ich war nur ein wenig spazieren, Vater, es geht mir gut“, antwortete Margaret schnell.
„Mr. Thornton war enttäuscht, Dich nicht mehr anzutreffen, als er sich verabschiedete. Er hätte Dir gerne noch gesagt, dass er Nicholas Higgins eingestellt hat.“
„Nicholas war bei ihm?“, Margaret sah ihren Vater überrascht an.
„Ja, er schien unmittelbar nach unserem Gespräch nach Marlborough Mills gegangen zu sein“
„Ich freue mich so sehr, Vater, ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Ich hatte nicht erwartet, dass Nicholas seinen Stolz doch noch überwinden könnte.“ Margaret drückte glücklich den Arm ihres Vaters.

John hatte einige Schriftstücke vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, als Fanny durch den Raum marschierte: „Also ehrlich. Miss Hale übertreibt es manchmal mit ihrem herrschaftlichen Gehabe, sie könnte sich ruhig einmal etwas Bescheidenheit zulegen.“
Mrs. Thornton warf einen kurzen Blick auf John. Dieser zeigte jedoch keine Regung und schrieb weiter.
„Ich habe ihr von meinen Hochzeitsplänen erzählt, sie schien überrascht zu sein“, fuhr Fanny plappernd fort.
„Ich bin gespannt, ob sie jemals einen Mann abbekommt. Sie ist viel älter als ich und so streng.“
Wieder blickte Mrs. Thornton von ihrer Handarbeit auf und sah zu ihrem Sohn hinüber. Er hielt für eine Sekunde inne und holte tief Luft.

„Ich habe ihr von Watsons Vorschlag erzählt und stellt Euch vor, sie hat doch tatsächlich ihre Nase gerümpft. Sie sagte, John wäre nicht interessiert.“ Fanny schnaubte verächtlich. „Als ob sie meinen Bruder besser kennen würde als ich.“
John konnte nicht anders, er schmunzelte. Ja, sie kannte ihn tatsächlich besser als seine eigene Schwester. Sein Gesicht wurde jedoch augenblicklich wieder ernst.
„Ich wäre Dir dankbar, wenn Du meine Geschäfte nicht auf der Strasse diskutieren würdest“, forderte er Fanny kühl auf: „Hast Du überhaupt von etwas Anderem eine Ahnung als vom Geld ausgeben, Fanny?“

„Ich weiß, dass Du mit Sicherheit den zehnfachen Gewinn erzielen würdest, wenn Du auf Watsons Angebot….“
„Es gibt keine Sicherheit bei einer Spekulation“, unterbrach John seine Schwester unwirsch, „und ich möchte mich nicht mehr darüber unterhalten!“
John stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Fanny sah ihm mit offenem Mund nach.

Ein mittelgroßer blonder Mann hatte sich außerhalb von Marlborough Mills an die Hauswand gelehnt und musterte den Fabrikhof aus zusammengekniffenen Augen. Ein boshaftes Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus, als er John erblickte.
Die vergangenen Wochen hatte er damit verbracht, Frederick Hale zu suchen und Informationen zusammenzutragen. Auf Hale war ein hübsches Sümmchen als Belohnung ausgesetzt, das sich Leonards nicht entgehen lassen wollte. Doch leider verlor er Hales Spur in London. Er hatte nur in Erfahrung bringen können, dass er sich dort mit einem Anwalt namens Lennox getroffen hatte.
Aber bevor Leonards die Behörden hatte informieren können, hatte Hale das Land bereits verlassen. Nun würde er eben auf eine andere Weise versuchen, an Geld zu kommen, und dieser Thornton schien ihm eine passende Alternative zu sein.

Er hatte einiges von Jane in Erfahrung bringen können. Wie naiv dieses Mädchen war. Er hatte nur angedeutet, dass er sie heiraten wollte und schon hielt sie ihn für ihre große Liebe und hatte alles ausgeplaudert, was sie über die Thorntons wusste. Leonards lachte verächtlich. Er würde diese dumme Kuh niemals heiraten. Sobald er das hatte, was er wollte, würde er sich aus dem Staub machen.

John unterhielt sich mit Williams, als sein Blick auf eine männliche Gestalt außerhalb des Hofes fiel. Der Fremde kam ihm merkwürdig bekannt vor und als er einige Schritte näher trat, erkannte er ihn. Leonards!
Williams folgte Johns Blick und fragte: „Kennen Sie den Mann? Der lungerte gestern schon hier rum.“
John schüttelte den Kopf „Kennen wäre übertrieben, aber ich habe ihn schon einmal gesehen.“
„Soll ich mich um ihn kümmern?“, wollte Williams wissen.
„Nein! Ich gehe selbst“, antwortete John bestimmt und trat auf Leonards zu.

„Suchen Sie jemanden?“ Johns Augen musterten Leonards kühl.
„Nein - das heißt, ich habe gerade gefunden, was ich gesucht habe“, Leonards grinste gehässig und eine Reihe gelber Zähne trat zum Vorschein.
„Was wollen Sie hier?“ John wirkte äußerlich gelassen, aber innerlich hatte er Mühe, seine Wut zu unterdrücken. Am liebsten hätte er den Kerl niedergeschlagen. Allein dafür, dass er Margaret in Panik versetzt hatte, hätte er es verdient.

„Thornton, so heißen Sie doch, oder? Sind Sie nicht der hiesige Magistrat?“
John antwortete nicht.
„Ein Vögelchen hat mir zugezwitschert, dass Sie – nun, nennen wir es eine besondere Schwäche für eine Dame aus Crampton haben?“
Leonards spuckte neben John auf den Boden.
Johns Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Selbst wenn es so wäre, wüsste ich nicht, was Sie das anginge!“, Johns Stimme war eiskalt.
„Was Sie mit wem machen, ist mir völlig egal, aber ich interessiere mich für diesen Bastard Hale.“ Er hielt Johns Blick stand.
„Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen!“, bellte ihm John förmlich entgegen.
„Nun, dann muss ich wohl etwas deutlicher werden.“ Leonards stieß ein kehliges Lachen aus, „Ich frage mich, was wohl die Polizei davon halten würde, dass ausgerechnet der Magistrat einem gesuchten Meuterer zur Flucht verholfen hat.“

John hob eine Augenbraue. Er versuchte verzweifelt, nicht die Beherrschung zu verlieren.
„Ich kenne niemanden, auf den diese Bezeichnung zutreffen würde.“
„Wenn ich Ihre Erinnerung auffrischen dürfte? 26. Oktober, Outwood Station? Für eine gewisse Gegenleistung wäre es mir sicher möglich, die Umstände unserer letzten Begegnung zu vergessen!“
Jegliche Selbstbeherrschung war verschwunden. John hob seinen Arm und presste Leonards mit dem Rücken an die Hausmauer. Sein Unterarm drückte seinem Gegenüber hart gegen die Kehle. Er überragte ihn um fast einen Kopf und war ihm körperlich weitaus überlegen.
„Verschwinde, und wage es nie wieder, mir unter die Augen zu kommen. Ich verspreche Dir, wenn ich Dich noch einmal in Miss Hales oder meiner Nähe sehen sollte, wirst Du es bis ans Ende Deines erbärmlichen Lebens bereuen“, zischte John zwischen zusammen gebissenen Zähnen. Er ließ Leonards so schnell los, dass dieser beinahe vornüber kippte. Ohne ein weiteres Wort drehte John sich um und ging über den Fabrikhof ins Haus. Leonards starrte ihm hasserfüllt hinterher.
Kapitel 5 - Tittle-Tattle by Jule
Zwei Tage später stand John unentschlossen vor dem Haus der Hales. Bereits zum dritten Mal hob er die Hand um zu klopfen und sie dann doch wieder mutlos sinken zu lassen. Er wusste nicht, ob jetzt schon der richtige Zeitpunkt war, aber er hielt es nicht mehr aus. Zu stark war inzwischen die Sehnsucht und zu groß seine Liebe.
Und wenn sie ihn immer noch nicht wollte? John schloss die Augen. Allein der Gedanke daran verursachte tief in seinem Innersten einen fast unerträglichen Schmerz. Doch dann erinnerte er sich an die vergangenen Wochen. Ihre Blicke, ihre Hand, die sie ihm nicht entzogen hatte, erst zwei Tage zuvor. Selbst wenn sie ihn nur ein wenig mochte, gäbe er sich damit zufrieden, er brachte genügend Liebe für sie beide mit.
Er holte noch einmal tief Luft und klopfte an die Tür. Mit pochendem Herzen wartete er und einige Augenblicke später erschien Dixon.
Nach einem kurzen Gruß bat sie ihn in den gleichen Raum, in dem er schon einmal, vor vielen Monaten, gestanden hatte. Damals hatte er die gleichen Absichten wie heute. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? All der alte Schmerz kam wieder zum Vorschein, als er sich umschaute. Es hatte sich nichts verändert, nur die Früchte fehlten heute. Nervös drehte er schon zum hundertsten Male den Hut in seinen Händen. Und wenn sie nicht kommen würde? Und falls doch, würde er die richtigen Worte finden? Seine Kehle war wie zugeschnürt.

„Miss?“ Margaret sah von ihrem Buch auf, als Dixon sie rief: „Mr. Thornton ist hier.“ „Vater hat gar nicht erwähnt, dass heute eine Lesestunde ist. Ist er denn überhaupt schon wieder zuhause?“ „Ihr Vater ist seit einer halben Stunde zurück, aber Mr. Thornton möchte Sie sprechen, Miss“, erwiderte Dixon und zog die Stirn in Falten. „Oh“, mehr brachte Margaret nicht über die Lippen. Ihr Herz schlug augenblicklich schneller.
„H-hat Mr. Thornton gesagt, was er möchte?“, stotterte Margaret. „Nein Miss“, antwortete Dixon und verschwand.

Margaret legte mit zitternden Händen das Buch zur Seite, stand auf und strich ihr Kleid glatt. Sie musste sich am Treppen-Geländer festhalten, um nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern, so weich waren ihre Knie. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und ein Kloß saß so tief in ihrer Kehle, dass sie fürchtete, daran zu ersticken. Unschlüssig stand sie vor der Tür. Sie berührte ihre Wangen, sie glühten! Sie schloss die Augen und atmete einige Male tief ein und aus, bevor sie zaghaft die Tür öffnete.

John schnellte herum, als er jemanden eintreten hörte. Da stand sie, wie ein wahr gewordener Traum. Ihren Blick fragend auf ihn gerichtet, die Wangen gerötet, ihre Hände wie in einem stummen Gebet gefaltet. John brachte kein Wort hervor und so sah er sie nur schweigend an.
„Mr. Thornton“, durchbrach Margaret die Stille. Ihre Stimme glich einem Flüstern. John erwachte aus seiner Erstarrung und trat langsam auf sie zu.
„Miss Hale“, erwiderte er fast ebenso leise und nahm ihre kleine Hand in die seine. Erneut Stille.
Worte waren aber ohnehin nicht nötig. Ihre Herzen unterhielten sich auf ihre ganz eigene, besondere Art. Beider Augen waren wie tiefe, klare Seen und beide konnten bis auf den Grund des anderen sehen. Und John sah, dass all seine Zweifel und Sorgen unnötig gewesen waren, dass sie seine Gefühle erwiderte, sie ihn tatsächlich haben wollte.
John trat noch einen Schritt näher und legte eine Hand auf ihre Wange. Sie schmiegte ihren Kopf in seine Handfläche und schloss die Augen. Margaret fühlte die Berührung seiner Lippen auf den ihren und die Zeit stand still. Es gab keine Angst mehr, alte Wunden und deren Schmerzen waren vergessen und es fühlte sich gut an, es fühlte sich richtig an!

Als ob Margarets Arme ein Eigenleben entwickelt hätten, schlangen sie sich um seinen Nacken. Ihre Hände berührten seinen Haaransatz, ihre Fingerkuppen strichen über seine Haut. John legte seine Arme um ihre Taille und zog sie näher. Er bedeckte ihr Gesicht mit kleinen, federleichten Küssen – ihre Augen, ihre Nasenspitze, ihre Wangenknochen, ihren Mundwinkel, entlang der Kinnlinie zu ihrem Hals, bis zu der empfindlichen Stelle knapp unterhalb des Ohrläppchens. Er sog tief ihren Duft ein, versuchte sich jede Reaktion, auch das kleinste Gefühl seines eigenen Körpers zu merken, er wollte diesen Augenblick für alle Zeiten in seine Erinnerung einbrennen.
„Oh Margaret“, brachte er heiser hervor „wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet!“

Margaret rückte ein kleines Stück von ihm ab, damit sie in sein Gesicht blicken konnte. Sie legte ihre rechte Hand auf seine Wange und zog zärtlich mit dem Daumen die Konturen seiner Augenbraue nach. Ihr war bisher nie aufgefallen, wie schön sein Gesicht wirklich war. Diese blauen Augen, die gerade jetzt mit einer ganz besonderen Intensität strahlten, seine etwas zu groß geratene Nase, die jedoch perfekt in sein Gesicht passte und ihm fast schon ein aristokratisches Aussehen verlieh, seine Wangen, die bereits wieder einen leichten Bartschatten zeigten, und sein Mund, der so zärtlich und sinnlich war, dass ihr der Atem stockte. Was hatte sie getan, um diesen Mann zu verdienen? War sie überhaupt gut genug für ihn?

„Ich liebe Dich so sehr!“, unterbrach er ihre Gedanken. Margaret legte ihren Kopf an seine Schulter und murmelte: „Und ich liebe Dich.“
Diese Worte zauberten ein strahlendes Lächeln auf sein Gesicht. „Wir standen schon einmal gemeinsam hier in diesem Zimmer, es sind einige Monate seither vergangen.“ Johns Blick wurde ernst „Die Frage wird jedoch die gleiche sein, Margaret. Ich habe niemals aufgehört Dich zu lieben, so sehr ich mich auch bemüht habe, Dich aus meinen Gedanken zu vertreiben. Ich liebe Dich, seit ich Dich das erste Mal gesehen habe und daran wird sich niemals etwas ändern, solange ich lebe!“

„Ich habe damals so schreckliche Dinge zu Dir gesagt, John.“
Er hielt den Atem an. Es war das erste Mal, dass sie ihn bei seinem Vornamen nannte, und er liebte es! „Ich habe Dir so unrecht getan, es tut mir so leid.“ Ihre Stimme versagte.
„Wir haben beide schreckliche Dinge gesagt“, John umschloss mit beiden Händen Margarets Hand und sah in ihre Augen.
„Margaret, möchtest Du meine Frau werden?“ Seine Augen baten, nein, flehten förmlich.
„Ja“, flüsterte sie glücklich, „ja!“

John konnte sein Glück kaum fassen, Margaret würde bald schon Mrs. Thornton sein. Er lächelte, als er an das eben geführte Gespräch mit Mr. Hale dachte. Richard hatte ihn mit offenen Armen in der Familie willkommen geheißen, als er um Margarets Hand angehalten hatte. Die Beziehung zwischen John und Richard war mehr als nur Freundschaft, Richard war ihm in all der Zeit fast wie ein Vater geworden. Und so verwunderte es John nicht, dass sich Margarets Vater aufrichtig über die Verlobung freute, er hatte nichts anderes erwartet. Ob seine eigene Mutter sich jedoch ebenso über die Verlobung freuen würde, wagte er zu bezweifeln. Mit einem etwas mulmigen Gefühl betrat John Marlborough Mills.

„Margaret“, Mr. Hale drückte voller Freude ihre Hand. „Ich gratuliere Dir herzlich.“
Sie lächelte ihren Vater glücklich an. „Danke Vater“, brachte sie hervor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Mein Kind, verstehe meine folgenden Worte nicht falsch, kein Mann wäre mir als Schwiegersohn lieber als John, aber ich gestehe, dass ich doch etwas überrascht bin. Ich hätte nicht gedacht, dass Du in der Zwischenzeit eine Zuneigung zu ihm entwickelt hast.“

„Wir haben uns zu Beginn unter sehr unglücklichen Umständen kennen gelernt. Ich möchte nicht abstreiten, dass ich sehr große Vorurteile gegenüber dem Norden und seinen Bewohnern hatte. Als wir von Helstone weggezogen sind, hatte ich das Gefühl, mein Paradies zu verlassen, doch mir ist inzwischen klar geworden, dass kein Weg zurückführt. Es gehört der Vergangenheit an, auch wenn wir einst sehr glücklich dort waren.“

Margaret hielt kurz inne und sah zu Boden: „Hat Dir John erzählt, dass er mir vor Monaten schon einmal einen Antrag gemacht und ich ihn zurückgewiesen hatte?“
Mr. Hale sah seine Tochter überrascht an. „Davon hat er nichts erwähnt.“ Er sah nachdenklich zu Boden „aber wenn ich darüber nachdenke, verstehe ich nun, warum er eine Zeitlang sehr selten zu uns kam.“
„Ich wusste damals noch nicht, was für einen Mann ich zurückgewiesen hatte. Ich kannte ihn nicht so, wie ich ihn jetzt kenne, Vater. Meine Liebe zu ihm ist langsam gewachsen, über Monate hinweg.“

„John bist Du das?“, hörte er seine Mutter rufen, als er die Stufen hinauf Richtung Wohnzimmer ging. „Ja Mutter“, erwiderte er, als er den Raum betrat. Hannah Thornton sah ihren Sohn stirnrunzelnd an.
„John, die Dienstboten reden über Dich. Sie sagen, man habe Dich vor einigen Wochen mit einem flüchtigen Verbrecher am Bahnhof gesehen.“
John seufzte und rollte mit den Augen, doch bevor er antworten konnte, fuhr seine Mutter fort.
„Falls daran etwas sein sollte, John, wie kannst Du Deinen Ruf so aufs Spiel setzen? Man sagt auch, dass Miss Hale ebenfalls involviert gewesen sei und ihr beide ihm zur Flucht verholfen hättet.“

John holte Luft und wollte den Redeschwall seiner Mutter unterbrechen. Sie sprach jedoch unbeirrt weiter. „John, in was bist du nur hinein geraten? Hast du denn aus der Vergangenheit nichts gelernt? Es kann doch unmöglich Dein Ernst sein, dass du immer noch Gefühle für diese Frau hast!“ „Mutter, warte!“, warf er schroff ein, „ich würde Dir gerne etwas mitteilen, sofern Du mich einmal zu Wort kommen ließest.“ Mrs. Thornton sah ihren Sohn überrascht an.
„Mutter, Margaret - Miss Hale und ich sind verlobt, wir werden heiraten.“
Mrs. Thornton hatte den Mund geöffnet und sah ihren Sohn mit einer Mischung aus Überraschung und Entsetzen an. Sie brachte kein Wort über die Lippen und so schloss sie ihren Mund wieder.

„Mutter?“ Mrs. Thornton erwachte langsam aus ihrer Erstarrung: „A-aber… warum?“ „Weil ich nie aufgehört habe, sie zu lieben.“ John wurde ernst „Ich weiß nicht, ob ich ihrer würdig bin, aber sie erwidert meine Gefühle und das macht mich zum glücklichsten Mann der Welt.“ Mrs. Thornton schüttelte langsam den Kopf, als ob sie nicht glauben könnte, was sie eben gehört hatte. „Aber John, sie hat Dich schon einmal abgewiesen.“ „Ja Mutter, aber heute hat sie eingewilligt meine Frau zu werden.“

Mrs. Thornton stützte den Kopf in ihre Hände, sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie würde ihr Leben für sein Glück geben. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Miss Hale sein Glück bedeutete, nicht nach alldem, was in der Vergangenheit gewesen war. Auch wenn John davon überzeugt war, dass Miss Hale seine Gefühle erwiderte, musste sie selbst erst noch davon überzeugt werden. Sie mochte die junge Frau nicht. Für ihren Geschmack war Miss Hale viel zu selbstständig und eigenwillig.

„Nicht, dass ich auf das Gerede der Dienstboten auch nur einen Pfifferling gäbe, aber was hat die Gerüchteküche dieses Mal gekocht?“, unterbrach John die Überlegungen seiner Mutter. Mrs. Thornton sah auf. „Nun, du sollst vor einigen Wochen zusammen mit Miss Hale und einem anderen Gentleman am Bahnhof gesehen worden sein. Dieser Fremde soll sich auf der Flucht befunden haben.“ John sah seine Mutter nachdenklich an und nickte schließlich.

„Mutter, ich weiß, dass ich mich auf Deine Verschwiegenheit verlassen kann, deswegen werde ich Dir die ganze Geschichte erzählen.“
Er berichtete in groben Zügen, was sich am Bahnhof ereignet und was Margaret ihm erzählt hatte. „Ist Mr. Hale in Sicherheit?“, fragte Mrs. Thornton, nachdem John geendet hatte. „Ja, er ist wohlbehalten zurück, aber ich traue diesem Leonards nicht. Er hat mir vorgestern aufgelauert. Für einen vollkommen Fremden weiß er erstaunlich viel. Er hat gedroht, mich an die Polizei zu melden, falls ich ihn nicht bezahlen würde.“ „John!“, rief Mrs. Thornton entsetzt aus. „Sorge Dich nicht, Mutter. Was hat er schon in der Hand, außer Vermutungen und Gerüchte? Es müssen schon Beweise vorliegen, damit überhaupt ermittelt wird.“ John drückte beruhigend Mrs. Thorntons Hand.
End Notes:
Riesenknuddel wieder an Becci und Tatty!
Kapitel 6 - Essen für alle by Jule
Tags darauf sah John mit in Falten gelegter Stirn aus dem Fenster seines Büros. Er musste an das am Morgen geführte Gespräch mit Fanny denken. Er hatte gewusst, dass seine Verlobung mit Margaret bei Fanny und seiner Mutter nicht gerade Begeisterungsstürme auslösen würde, aber mit einer derartigen Ablehnung seitens seiner Schwester hatte er nicht gerechnet. „Wage es nicht, mit ihr auf meiner Hochzeit aufzutauchen, John. Was wird nur die Miltoner Gesellschaft davon halten!“, mit diesen Worten war sie wutentbrannt aus dem Zimmer gestürmt.
John seufzte laut. Auch wenn er seinen zukünftigen Schwager nicht sehr mochte, so tat er ihm in diesem Augenblick unendlich leid. Sein Leben würde zweifelsohne jeglicher Zuneigung entbehren müssen, denn dass Fanny Watson nur wegen seines Geldes heiraten würde, war John von Anfang an klar gewesen.

Er wollte sich gerade wieder vom Fenster abwenden, als er Jane zusammen mit einem Mann am Tor stehen sah. John kniff die Augen zusammen und erkannte Leonards. Was hatte Jane mit diesem Mann zu schaffen? Doch bevor John aus dem Büro gestürmt war, hatte Leonards das Gelände wieder verlassen und Jane lief rasch ins Haus zurück. John erwischte sie gerade noch, bevor sie im Zimmer seiner Mutter verschwinden konnte.
„Jane!“, rief er.
„Ja Sir?“, antwortete sie fragend.
„Was wollte der Mann eben?“ Johns Stimme klang härter als er beabsichtigt hatte.
„Das war Mr. Leonards, mein Verlobter, Sir“, antwortete Jane schüchtern. John sah sie ungläubig an.
„DAS ist Dein Verlobter?“ Johns Augen verengten sich zu Schlitzen. Nun wurde ihm einiges klar, daher wusste Leonards also über ihn und Margaret Bescheid. John ließ Jane einfach stehen und ging zu seiner Mutter ins Wohnzimmer. Zum Glück fand er sie allein vor.

„Mutter, wie sehr vertraust Du Jane?“, fragte John und strich sich mit einer Hand durch sein Haar.
„Warum fragst Du, John? Jane ist seit fünf Jahren bei uns und ich hatte bisher keinen Anlass zu glauben, dass sie mein Vertrauen missbrauchen würde“, erwiderte Mrs. Thornton.
„Nun, Jane ist Leonards Verlobte!“
Mrs. Thornton hob ungläubig den Kopf: „Woher weißt Du das? Bist Du Dir sicher?“
„Ich habe sie vor einigen Minuten mit Leonards sprechen sehen. Sie selbst hat mir gesagt, dass sie mit ihm verlobt ist.“ John kniff die Augenbrauen zusammen. „Ich regle das“, erwiderte Mrs. Thornton entschieden und erhob sich.

John kehrte zurück in sein Büro, er konnte jedoch kaum einen klaren Gedanken fassen. Er wusste nicht, wozu Leonards fähig war. Welches Unheil würde er als nächstes stiften? Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken und er sah hoch. Im Türrahmen stand ein Polizei-Inspektor. John kannte ihn, sein Name war Mason.
„Entschuldigen Sie die Störung, Sir.“
John nickte ihm freundlich zu: „Guten Tag, Mason, was kann ich für Sie tun?“ Mason war sichtlich nervös, die Situation schien ihm unangenehm zu sein. „Sir, ich habe einen Hinweis erhalten. Nicht, dass ich auch nur ein Wort davon glauben würde, oder Beweise vorliegen, aber ich muss der Sache leider nachgehen“, entschuldigte sich Mason.

„Worum geht es denn?“, fragte John und versuchte, seiner Stimme einen gelassenen Ausdruck zu verleihen. Innerlich war er bis aufs Äußerste angespannt. „Es geht um einen Vorfall, der sich am 26. Oktober an der Outwood Station ereignet haben soll. Wir haben einen Hinweis erhalten, dass sich ein gewisser Frederick Hale in England aufgehalten hätte. Mr. Hale wird auf Grund einer Meuterei von der Marine gesucht.“ „Ich kenne eine Familie Hale aus Crampton. Mr. Hale ist mein Tutor. Er ist mit seiner Familie vor über einem Jahr in den Norden gezogen. Ein Frederick Hale ist mir jedoch unbekannt“, log John.

„Waren Sie an diesem Tag am Bahnhof?“, lächelte Mason.
„Ja“, erwiderte John, „ich habe Miss Hale dort getroffen. Sie hat ihren Cousin, Mr. Dickenson zum Bahnhof begleitet, der für einige Tage bei den Hales zu Besuch war.“
John hielt innerlich den Atem an. Mason war nicht dumm und wenn er eins und eins zusammen zählte, würde er auf das richtige Ergebnis kommen. Aber auch er hatte keine Beweise, dass der Mann am Bahnhof tatsächlich Frederick war.
Mason nickte bei Johns Worten und machte sich einige Notizen.
„Das war schon alles, ich möchte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.“, sagte Mason freundlich und verabschiedete sich.
John stand einige Momente unschlüssig da und dachte angestrengt nach. Er musste zu Margaret, und zwar schnell. Rasch zog er sich an und verließ eilig das Haus.
„John!“, rief Margaret überrascht aus, als sie ihn ins Haus ließ. John schloss eilig die Tür hinter sich und nahm sie in seine Arme. Er hauchte einen Kuss auf ihre Stirn und begann sogleich von Masons Besuch zu erzählen. Dass er selbst schon eine Begegnung mit Leonards gehabt hatte, verschwieg er. Es war nicht nötig, dass Margaret sich auch noch um ihn sorgte.
„Ich denke, dass Mason auch hier auftauchen wird“, beendete John seinen Bericht.
„Oh John, das alles tut mir so furchtbar leid, ich habe niemals gewollt, dass Du für uns lügst.“ Margaret traten Tränen in die Augen.
„Shh“, antwortete er und versiegelte ihre Lippen mit einem Kuss.

„Margaret, Du hast mir an jenem Abend erzählt, dass sich Fred mit einem Anwalt in London treffen wollte. Hat er schon Schritte unternommen, um Deinem Bruder zu helfen?“, wollte John wissen.
„Ja, aber bisher hat Henry - Mr. Lennox, nur in Erfahrung bringen können, dass Cpt. Reid verstorben ist. Jegliche Versuche mit den beiden Offizieren, die dessen Geschichte damals bezeugt hatten, in Verbindung zu treten, schlugen fehl“, Margaret seufzte.
„Würdest Du für mich einen Kontakt zu Mr. Lennox herstellen, Margaret?“, bat John: „Auch wenn wir keinen Erfolg haben sollten, so möchte ich es zumindest versuchen.“

Nachdem John gegangen war, setzte Margaret sich an den Tisch und begann drei Briefe zu schreiben. Je einen an Edith und Tante Shaw, worin sie über ihre Verlobung mit Mr. Thornton erzählte, der dritte Brief ging an Henry. Sie überlegte lange, ob sie ihn über ihre bevorstehende Heirat unterrichten sollte, aber da er von Edith ohnehin davon erfahren würde, wäre es besser, sie würde es ihm selbst schreiben. Sie berichtete auch von Frederick und Leonards und von Johns Wunsch helfen zu wollen. Margaret hatte kaum die Feder zur Seite gelegt, als Dixon einen Besucher ankündigte.

„Sie sind Miss Hale?“, fragte Mason lächelnd, als sie das Zimmer betrat, in welchem er auf sie wartete. Margaret nickte und begrüßte den Inspektor.
„Mein Name ist Mason, ich werde Ihre Zeit nicht lange beanspruchen, ich muss Sie nur einige Dinge fragen, wenn Sie erlauben.“
„Wobei kann ich Ihnen helfen?“, fragte Margaret freundlich.
Er blätterte durch seinen Notizblock. „Es geht um den Abend des 26. Oktober. Sie waren mit einem Gentleman und Mr. Thornton am Bahnhof?“
„Ja, ich habe meinen Cousin zur Outwood Station gebracht. Er war einige Tage unser Gast. Mr. Thornton haben wir zufällig getroffen“, antwortete Margaret ruhig.
„Wie heißt Ihr Cousin, wenn ich Sie das fragen darf?“
„Sie dürfen. Sein Name ist Dickenson“, antwortete Margaret. „Warum stellen Sie mir diese Fragen? Ist Mr. Dickenson in Schwierigkeiten?“
„Nein – nein“, antwortete Mason schnell. „Wir haben einen Hinweis erhalten, dass der Fremde ein Mr. Frederick Hale sein soll. Ihr Bruder nehme ich an?“
Margaret nickte. „Ja, mein Bruder heißt Frederick, aber er lebt seit vielen Jahren im Ausland. Wir haben ihn nie wieder gesehen, seit er England verlassen hat“, Margaret war erstaunt, wie leicht ihr diese Lüge über die Lippen kam.
„Danke für Ihre Hilfe, das war schon alles. Entschuldigen Sie bitte die Störung.“
Margaret nickte ihm freundlich zu, als er sich verabschiedete.

Kaum hatte Mason das Haus verlassen, ließ sie sich zitternd auf einen Stuhl sinken. Jegliche zur Schau gestellte Ruhe fiel von ihr ab und sie schluchzte unkontrolliert. Was hatte sie nur getan! Nicht nur, dass sie Frederick in Lebensgefahr brachte, sie schadete auch noch John.
Es dauerte lange, bis sich Margaret wieder einigermaßen beruhigt hatte und sie war froh darüber, dass weder Dixon noch ihr Vater etwas mitbekommen hatten.

Margaret hatte nur einen Wunsch, nämlich John zu sehen. Er war der Einzige, mit dem sie reden konnte. Sie sagte schnell Dixon Bescheid und verließ rasch das Haus.
Auch wenn die Jahreszeiten hier oben im Norden kaum spürbar waren, so glaubte Margaret doch schon den nahenden Frühling riechen zu können. Die Luft war klar und nicht mehr so beißend kalt. Sie kam schnell voran und schon bald erreichte sie Marlborough Mills.

John blickte aus dem Fenster seines Büros und sah den kleinen Tom im Hof sitzen. Es war mindestens schon eine halbe Stunde her, seit die Feierabendglocke geläutet hatte. Er ging nach draußen und setzte sich neben ihn. Er schmunzelte, als er Tom zuschaute, wie er sich über sein Buch beugte und laut daraus vorlas.
„Was machst du hier, wo ist Higgins?“, fragte John den Jungen. Tom zuckte mit den Schultern und sah John schüchtern an.
„Hast du schon gegessen?“ wollte John wissen.
Tom schüttelte den Kopf: „Mary war beim Metzger, aber sie hat nichts gemacht.“
John hörte Schritte und sah hoch. Higgins kam auf ihn zu.
„So spät? Die Schicht ist schon gut eine halbe Stunde zu Ende.“
„Die Arbeit war noch nicht fertig“, antwortete Higgins.
„Ich kann keine Überstunden bezahlen“, erwiderte John.
„Es geht mir nicht um die Bezahlung von Überstunden.“ Higgins setzte sich neben Tom: „Wenn Sie untergehen, wird mich kein anderer mehr einstellen, und wer soll ihm dann etwas zu Essen geben?“ Higgins nickte zu Tom.
„Er hat mir gesagt, er hat noch nicht zu Abend gegessen.“ John sah zu Higgins hinüber.

„An manchen Tagen gibt es gutes Fleisch, an anderen Tagen überhaupt nichts, selbst wenn man Geld in der Tasche hat.“
John zog die Stirn in Falten und dachte nach: „Es ist ein Jammer. Man sollte beim Großhandel kaufen. Dann könnte man für mehrere kochen anstatt nur für einen, so könnte sich jeder eine gute Mahlzeit am Tag leisten.“
Higgins sah ihn überrascht an. John lächelte: „Satte Männer arbeiten besser, das sollte jeden Arbeitgeber freuen.“
„Wir bräuchten einen Ort zum Kochen. Es gibt einen alten Anbau auf der Rückseite.“ Higgins sah John erwartungsvoll an.
John schmunzelte. „Sie haben heute Ihren Kopf mit zur Arbeit gebracht, richtig?“ John konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Nun – ich versuche das zu verbergen, aber ich kann ihn nicht immer verstecken.“ Higgins Mundwinkel zuckten.
„Sie berechnen die Kosten, dann werden wir sehen“, erwiderte John.

Margaret ging über den Hof und sah von weitem Higgins, Tom und John auf einer Rampe sitzen. Sie trat näher und auf Johns Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, als er sie erblickte. Margaret begrüßte Higgins herzlich. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als er von Margaret zu John sah. Ihre Blicke sprachen Bände.
„Ich glaube, Margaret möchte Ihnen etwas sagen“, lachte John, als er Higgins Blick auffing. Margaret drehte sich mit geröteten Wangen zu Higgins.
„Nicholas, John und ich werden heiraten.“
„Darauf warte ich eigentlich schon seit Monaten“, erwiderte Higgins lachend und schüttelte beiden die Hand. „Meinen herzlichen Glückwunsch, ich freue mich sehr für Sie beide.“

„John“, sagte Margaret, als sie sich von Higgins verabschiedet hatten „Du hattest recht mit diesem Polizei-Inspektor, er hat mich aufgesucht.“
Margaret erzählte John, was sich ereignet hatte.
„Glaubst Du, er wird die Angelegenheit weiter verfolgen?“
„Ich weiß es nicht“, überlegte John, „Im Grunde hat er nichts in der Hand. Er kann nicht beweisen, dass Frederick in England war, selbst wenn er den Anschuldigungen Glauben schenken sollte. Mach dir keine Sorgen.“
Mittlerweile hatten sie Johns Büro erreicht und er schloss die Tür. Margaret sah zu ihm auf. Zärtlich strich er eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
„Vielleicht muntert es Dich auf, wenn ich Dir erzähle, dass Higgins und ich darüber nachdenken, eine Küche für die Arbeiter einzurichten?“ John lächelte sie liebevoll an.
„Oh John. Das klingt wundervoll.“ Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung „Wann wird es soweit sein? Gibt es schon einen Raum dafür? Wer wird kochen?“
„Langsam Liebes, Higgins wird erst noch die Kosten kalkulieren müssen. Aber auf der anderen Seite des Hofes gibt es einen Anbau, der leer steht.“
Margaret legte ihre Arme um Johns Nacken und hauchte einen Kuss auf seine Lippen.
„Hmm“, brummte er genüsslich, „an diese Art Belohnung könnte ich mich gewöhnen.“
Kapitel 7 - Hilfe für Frederick by Jule
Henrys Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Schon wenige Tage später erhielt Margaret einen Brief, worin Henry mitteilte, dass er geschäftlich im Norden des Landes zu tun hätte und einen Zwischenstopp in Milton einlegen würde. Mit Henrys Brief in der Tasche machte sich Margaret auf den Weg nach Marlborough Mills.

Sie standen im Wohnzimmer der Thorntons und unterhielten sich leise über die Küche, die Higgins und John in den letzten Tagen eingerichtet hatten. Heute sollte sie in Betrieb gehen und Margaret freute sich sehr darüber. Mary war bereits mit den Vorbereitungen beschäftigt und John hatte Margaret nach langem Bitten erlaubt zu helfen. „Du hättest es ohnehin nicht verhindern können“, lachte Margaret glücklich.

Mrs. Thornton saß über eine Handarbeit gebeugt und ihre Gedanken wanderten zu Jane. Sie bedauerte einerseits, dass Jane es vorgezogen hatte, Marlborough Mills zu verlassen, andererseits erwartete sie von ihren Dienstmädchen bedingungslose Loyalität und Diskretion. Beides hatte Jane mit Füßen getreten, in dem sie vertrauliche Familienangelegenheiten ausgeplaudert hatte. Auch wenn ihr das Mädchen Leid tat, so war es sicher das Beste, denn das einstige Vertrauen hätte niemals wieder hergestellt werden können.

Mrs. Thornton sah auf, als sie Margaret lachen hörte. Obwohl sie nichts von dem verstand, was ihr Sohn und Margaret miteinander sprachen, drückten sowohl Mimik als auch Gestik ihrer beider Empfindungen füreinander aus.
Sie hatten die Köpfe zusammen gesteckt und auf einer Seite berührten sich leicht ihre Schultern. Margaret hatte ihre rechte Hand auf Johns Unterarm gelegt. Ihr linker Arm baumelte an ihrem Körper hinab. Wie zufällig berührten Johns Finger ihren Handrücken und strichen kaum merklich darüber. Die tiefe Zuneigung zwischen den beiden blieb Mrs. Thornton nicht verborgen. Sie hatte ihren Sohn noch nie glücklicher gesehen. Gegen ihren Willen musste sie lächeln. Vielleicht war Miss Hale ja doch nicht Johns schlechteste Wahl.

Bereits am darauf folgenden Tag traf Henry in Milton ein. Margaret begrüßte ihn herzlich, sie freute sich, ihn wieder zu sehen.
Tante Shaw, Edith und auch Maxwell Lennox ließen ihre herzlichen Glückwünsche ausrichten. Ob sich Henry ebenso über Margarets bevorstehende Hochzeit freute, war nicht zu erkennen, seine Gesichtszüge wirkten verschlossen.
John gesellte sich erst später dazu. Die beiden Männer begrüßten sich zwar höflich, aber distanziert. John dachte an seine erste Begegnung mit Henry. Es war in London während der Ausstellung gewesen. Schon damals hatte er das Gefühl gehabt, dass Henry in Margaret weit mehr als seine Schwägerin sah. Und dieses Gefühl hatte er auch jetzt. John entging es nicht, dass Henrys Blick Margaret folgte, wann immer er sich unbeobachtet fühlte. Er konnte nicht verhindern, dass ein winziges Gefühl der Eifersucht in ihm aufstieg.

Bald darauf zogen sich John und Henry in Mr. Hales Arbeitszimmer zurück. Henry erzählte John, dass er einen der beiden Offiziere südlich von London ausfindig machen konnte.
„Ich habe versucht mit ihm in Kontakt zu treten, doch meine Briefe blieben bislang unbeantwortet“, erklärte Henry.
„Wo befindet sich der andere?“, wollte John wissen.
„Derzeit auf See, aber seine Familie wohnt nicht weit von hier. Ich habe erfahren, dass er in etwa zwei bis drei Wochen zurück erwartet wird.“
Henry reichte John ein Papier, worauf die Adressen der beiden Offiziere notiert war.
„Wie schätzen Sie die Chance ein, die Herren zu einer wahrheitsgemäßen Aussage zu bewegen?“ John fuhr mit der Hand durch sein Haar.
„Ich weiß es nicht. Cpt. Reid ist mittlerweile verstorben, aber ich könnte mir vorstellen, dass die Herren ‚überredet’ werden könnten. Ich fürchte allerdings, dass es nicht billig werden wird“, antwortete Henry stirnrunzelnd.
John nickte langsam.
„Ich werde die Herren persönlich aufsuchen und sehen, was ich machen kann“, sagte er bestimmt.
„Das würden Sie für Frederick tun?“ Henry hob erstaunt den Kopf.
„Für Margaret“, antwortete John leise, „es gibt nichts, was ich nicht für sie tun würde.“ John ging auf die Tür zu, drehte sich aber noch einmal um: „Dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten, Lennox?“
„Natürlich“, erwiderte Henry überrascht.
„Bitte erwähnen Sie gegenüber Margaret und Mr. Hale nicht, dass ich beabsichtige, die Herren Wright und Smith persönlich aufzusuchen.“
Henry sah John lange an und nickte schließlich: „Sie haben mein Wort.“

Henry sah nachdenklich aus dem Fenster seines Zugabteils. Die Nachricht von Margarets bevorstehender Hochzeit hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich immer noch Hoffnungen gemacht, sie eines Tages doch noch für sich gewinnen zu können. Nun hatte er sie endgültig verloren. Immer wieder hatte Edith ihm in den Ohren gelegen, dass er sich um Margaret bemühen müsse, bevor es ein Anderer täte. Er wollte Margaret nicht bedrängen. Nun bereute er es, dass er Ediths Rat nicht befolgt hatte. Er schloss traurig seine Augen, als er an Margarets Blicke dachte, die sie mit Thornton austauschte. In diesen Blicken lag so viel Liebe, Verständnis und gegenseitiges Vertrauen, wie er es selten bei zwei Menschen gesehen hatte. Auch wenn er sich im Grunde darüber freute Margaret so glücklich zu sehen, so konnte er den Schmerz, den er tief in seinem Innersten fühlte, nicht vertreiben.
Henry erinnerte sich noch sehr gut an seine erste Begegnung mit Thornton bei der Ausstellung in London im letzten Jahr. Thornton war ihm fast schon feindselig entgegen getreten. Auch wenn er ihn zu Anfang für einen ungehobelten, arroganten Händler gehalten hatte, so musste er sich insgeheim doch eingestehen, dass Thornton kein übler Mensch war und er Margaret ganz offensichtlich über alles liebte.

„Chef!“, rief Higgins John zu, als dieser im Hof an ihm vorbei ging. John drehte sich zu ihm um und hob fragend die Augenbrauen. „Haben Sie heute schon etwas gegessen?“
„Nein, ich war zu beschäftigt“, antwortete John seufzend.
„Es gibt Eintopf, kommen Sie“, forderte Higgins ihn auf.
„Das habe ich schon ewig nicht mehr gehabt“, antwortete John lächelnd und folgte Higgins.
Sein Blick fiel sogleich auf Margaret, die zusammen mit Mary Besteck und Teller an die Arbeiter verteilte. Sie lächelte ihm strahlend entgegen, als er sich zusammen mit Higgins auf eine Bank setzte.
Margaret drückte jedem der beiden Männer einen Löffel in die Hand und Mary brachte die Teller. John warf Margaret einen liebevollen Blick zu, bevor sie sich wieder der Arbeit widmete.
„Hm, das ist gut“, er sah überrascht auf „sehr gut sogar“.
„Mary ist ein gutes Mädchen und eine hervorragende Köchin. Seit dem Tod ihrer Schwester scheint sie über sich hinaus zu wachsen. Ich wüsste nicht, wie ich ohne sie zurecht kommen würde, besonders jetzt, seit die Kinder da sind“, antwortete Higgins.

In den nächsten Tagen hatte Margaret nicht allzu viel Zeit, um Mary in der Küche zu helfen, sie war mit ihren eigenen Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt. Sie war Mrs. Thornton unendlich dankbar, dass diese ihr half. Die Gäste mussten geladen werden, mehrere Schneider wurden mit der Fertigung der Garderobe und natürlich auch für Margarets Hochzeitskleid beauftragt. Es musste ein geeigneter Platz für die Gäste reserviert , das Menü bestellt und all die anderen Dinge noch erledigt werden, die für eine Hochzeit unabdingbar waren.
Auch wenn sich Margaret immer gewünscht hatte an einem sonnigen Tag zu heiraten und ihr Lieblingskleid zu tragen, so erkannte sie doch, dass Milton eigene Regeln für sie parat hielt. John war an ihrer Seite, was spielte ihr Kleid da für eine Rolle? Konnte sie überhaupt noch glücklicher sein?

Doch zuvor fand Fannys Hochzeit statt. John war erleichtert, dass ihm eine weitere Szene mit Fanny erspart blieb. Er hatte die Vermutung, dass er dies seiner Mutter zu verdanken hatte. Und was die Miltoner Gesellschaft anging, so war sie wesentlich gnädiger als seine Schwester und er nahm von allen Seiten Glückwünsche entgegen, als seine Verlobung mit Margaret bekannt wurde.

Etwa zwei Wochen nach Fannys Hochzeit saß John im Zug und hatte nachdenklich seinen Blick geradeaus gerichtet. Margaret war überrascht gewesen, als er ihr erzählte, dass er für einige Tage Milton aus geschäftlichen Gründen verlassen musste, hatte aber nicht weiter nachgefragt. Er hasste es, Margaret nicht die Wahrheit zu sagen, aber er war sich sicher, dass sie es niemals zugelassen hätte, dass er Wright und Smith aufsuchen und ihnen Geld dafür anbieten würde, damit sie die Wahrheit bezeugten. Und es hatte ihn nicht wenig gekostet, die Herren zu überreden, vor Gericht ihre Aussage zu revidieren.
Der im Süden lebende Wright war kein großes Problem gewesen. Seit er aus der Marine ausgeschieden war, schien für ihn der Sinn des Lebens im Geist des Weines zu liegen. Smith dagegen war ein weitaus härterer Verhandlungspartner und es hatte John ein hübsches Sümmchen gekostet, bis dieser schließlich einwilligte.
Im Grunde war John jedoch zufrieden. Er hatte von beiden eine unterzeichnete Erklärung bei sich, die er gleich bei seiner Ankunft in Milton an Henry schicken wollte. Dieser würde alle weiteren juristischen Schritte in die Wege leiten und mit viel Glück wäre Frederick bereits ein freier Mann, wenn er, John, Margaret vor den Traualtar führen würde. Er konnte sich kein schöneres Hochzeitsgeschenk für sie vorstellen.

Es dämmerte bereits, als John wenige Tage nach seiner Rückkehr nach Milton am Schreibtisch seines Büros saß und noch einige Korrespondenz erledigte.
„Feuer! Es brennt“, schrie jemand panisch.
John hob entsetzt seinen Kopf und blickte aus dem Fenster. Tatsächlich, auf der anderen Seite des Hofes quoll Rauch empor. John stürmte aus seinem Büro und rannte über den Hof. Lautes Stimmengewirr kam aus allen Ecken und der Hof füllte sich binnen Sekunden mit Menschen.
„Schnell, bildet eine Löschkette!“, rief eine männliche Stimme „Das Feuer darf nicht überspringen!“, schrie ein anderer.
„Ist noch jemand im Gebäude?“ John hatte Mühe die Menge zu übertönen.
„Nein, zum Glück ist niemand mehr drin“, erhielt er von irgendwoher die Antwort. John versuchte, einige Karren und Säcke gefüllt mit Baumwolle aus der Gefahrenzone zu ziehen, damit sie nicht ebenfalls Feuer fingen.
„Higgins, helfen Sie mir!“, schrie er. Eine unglaubliche Hitze schlug ihnen entgegen, als sie sich dem Brand näherten. Bereits die Hälfte des Gebäudes brannte lichterloh.
Ein gellender Schrei ließ John hochschrecken. „Da ist noch jemand drin!“, schrie eine Stimme. John schnellte herum und lief zum Eingang.
„Thornton, nein! Sie können da nicht rein!“ Higgins versuchte ihn zurückzuhalten, doch John hörte ihn schon gar nicht mehr, er war bereits durch die Tür verschwunden.
Er hob schützend die Arme vor sein Gesicht und sah sich mit zusammen gekniffenen Augen um. Die Hitze war fast unerträglich und das Atmen fiel ihm wegen des dichten Rauchs sehr schwer. Er ging einen Schritt weiter, als er über sich ein lautes Knacken hörte. Bevor er jedoch reagieren konnte, brach ein Deckenbalken herunter und erwischte ihn am Kopf. John sah nur noch schwarz und sank bewusstlos zu Boden.
End Notes:

Ich möchte einmal Becci und Tatty ganz fest Knuddeln für ihre Hilfe! ;-)

Kapitel 8 - Ein neuer Aufseher muss her by Jule
„Miss Margaret!“, Atemlos und völlig aufgelöst stand Mary im Treppenhaus.
„Was ist passiert?“ eine dunkle Vorahnung kroch in Margaret empor.
„Ein Feuer in der Fabrik, es hat gebrannt“, erwiderte Mary schluchzend.
„Um Gottes Willen! Wurde jemand verletzt?“ sie hielt sich die Hände vor den Mund: „Geht es John gut?“
Sie erkannte an Marys Gesichtsausdruck, dass es John keineswegs gut ging.
„Mary, nun sag doch etwas, ist Mr. Thornton etwas geschehen?“, Margaret schrie die Worte fast aus.
„Dr. Donaldson ist gerade bei ihm. Er hat versucht, jemanden aus dem Feuer zu bergen. Dabei ist einer der Deckenbalken eingestürzt und hat ihn am Kopf verletzt.“
Margaret stieß einen spitzen Schreckensschrei aus.
„Ich muss zu ihm!“ in Windeseile hatte sich Margaret angezogen und verließ gemeinsam mit Mary das Haus. Sie rannten fast den Weg nach Marlborough Mills.

Sie hatte gerade das Wohnhaus betreten, als ihr Mrs. Thornton auf der Treppe entgegen kam.
„Wie geht es ihm?“, fragte Margaret völlig außer Atem, die Tränen liefen in Strömen über ihr Gesicht.
„Margaret, beruhigen Sie sich, es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Er hat eine Gehirnerschütterung, dazu einige Platzwunden und Brandverletzungen und eine leichte Rauchvergiftung. Also nichts, was mit ein paar Tagen Bettruhe und guter Pflege nicht wieder in Ordnung käme“, redete Mrs. Thornton auf sie ein.
„Wo ist er?“, erwiderte Margaret.
„Margaret, er schläft, Sie könnten im Moment ohnehin nichts für ihn tun.“
„Bitte! Ich muss ihn sehen!“, flehte Margaret.
Mrs. Thornton sah ihre zukünftige Schwiegertochter einige Momente an und nickte schließlich: „Also gut, die zweite Tür rechts.“
Kaum hatte Mrs. Thornton zu Ende gesprochen, war Margaret auch schon oben an der Treppe. Vorsichtig drückte sie die Türklinke hinab und schlüpfte fast geräuschlos in das Zimmer. Die einzige Lichtquelle kam von einer Kerze, die auf einem Tisch in der Nähe des Bettes stand. Der restliche Raum lag in Dunkelheit und man konnte nur vage Umrisse einiger Möbel erkennen. Sie trat näher an das Bett und musste einen Schrei unterdrücken. Wie leblos lag John in den weißen Laken. Um seinen Kopf war ein dicker Verband gewickelt. Sein Gesicht war leichenblass unter den zahlreichen Schürfwunden. Sie nahm vorsichtig seine Hand, hob sie an ihre Lippen und hauchte einen Kuss auf seine Handfläche, bevor sie ihr Gesicht in seine Hand schmiegte. „Oh John“, flüsterte sie und stumme Tränen liefen über ihr Gesicht. „Bitte verlass mich nicht, Du bist mein Leben, ich liebe Dich so sehr.“

So fand Mrs. Thornton ihre zukünftige Schwiegertochter und ihren Sohn vor, als sie einige Zeit später Johns Schlafzimmer betrat. Margaret sah kurz aus ängstlichen und rot verweinten Augen auf. Mrs. Thornton deutete stumm auf die Tasse Tee in ihren Händen, aber Margaret schüttelte nur den Kopf und wandte sich wieder John zu. Das erste Mal, seit Mrs. Thornton Margaret kannte, empfand sie so etwas wie Zuneigung zu der jungen Frau. Sie erkannte, dass Margaret ihren Sohn wirklich liebte und sie ihm eine gute Frau sein würde.
Sie trat auf sie zu und legte ihr mitfühlend eine Hand auf die Schulter.
„Er wird wieder gesund, Margaret“, flüsterte Mrs. Thornton. Margaret nickte stumm und wieder liefen Tränen über ihre Wangen.
„Danke, Mrs. Thornton“, brachte Margaret stockend über ihre Lippen.
„Hannah, mein Name ist Hannah“, antwortete die ältere Frau und ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

John blinzelte kurz und öffnete vorsichtig seine Augen. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Kopf. Er nahm nur verschwommene Umrisse wahr und wusste im ersten Augenblick nicht, wo er war. Langsam nahm seine Umgebung Konturen an. Er war in seinem Zimmer, lag in seinem Bett. Was war passiert?
Allmählich kamen die Erinnerungen wieder zurück. Ein Feuer! Ein Feuer war in der Fabrik ausgebrochen. John fürchtete wieder das Bewusstsein zu verlieren und versuchte tief durchzuatmen. Das löste einen unkontrollierten Hustenanfall aus und Margaret und Mrs. Thornton sprangen erschreckt auf.
„John?“, flüsterte Margaret und legte eine Hand auf seine Stirn. Mrs. Thornton stand bereits hinter ihr und hielt Margaret eine Tasse entgegen. Sobald der Anfall abgeebbt war, griff Margaret vorsichtig in seinen Nacken und hob langsam seinen Kopf an, mit der anderen Hand hielt sie die Tasse an seine Lippen. John nahm zwei kleine Schlucke, dann schloss er wieder erschöpft die Augen.
Margaret stellte die Tasse ab und legte ein feuchtes, kühles Tuch auf Johns Stirn.
„Margaret“, kam es leise über Johns Lippen.
Sie griff nach Johns Hand und drückte sie leicht.
„Ich bin hier, Liebster“, erwiderte sie und küsste seinen Handrücken. Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel, bevor er wieder einschlief.

„Margaret“, flüsterte jemand wie aus weiter Ferne und sie fühlte eine Hand auf ihrer Schulter. Sie öffnete erschreckt die Augen. Sie musste für einen Augenblick eingeschlafen sein. Ihr Blick fiel sogleich auf John. Er schlief immer noch tief und fest.
„Sie sollten etwas schlafen“, hörte sie Mrs. Thorntons leise Stimme, „Ich habe eines der Gästezimmer für Sie herrichten lassen.“
Margaret sah die ältere Frau irritiert an. „Mein Vater….“
„Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe einen Boten zu Ihrem Vater geschickt, er weiß Bescheid und Ihre Haushaltshilfe hat eine Tasche mitgegeben.“
Hannah schien Margarets Unentschlossenheit zu spüren und ergänzte: „Ich verspreche, dass ich Sie augenblicklich holen lassen werde, sollte sich Johns Zustand verändern.“
Vielleicht war es wirklich besser, sie würde sich ein wenig hinlegen, dachte Margaret. Sie fühlte, wie ihr Nacken schmerzte und bog den Kopf nach hinten. Müde erhob sie sich vom Stuhl und nickte Mrs. Thornton stumm zu.
Bevor Margaret Johns Schlafzimmer verließ, drehte sie sich nochmals um.
„Danke, für alles“, flüsterte sie und schloss leise die Tür hinter sich.

Margaret war zu müde, um sich in dem Zimmer umzuschauen. Sie setzte sich auf das Bett und wollte vor dem Entkleiden nur zwei Minuten den Kopf auf das Kissen legen. Doch sie war binnen Sekunden eingeschlafen, nachdem ihr Kopf das Bett berührte.
Unruhige Träume plagten sie, einer schlimmer als der andere. Immer wieder sah sie John vor sich, wie er inmitten der Flammen stand, unfähig sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Die Flammen ergriffen von ihm Besitz und bald glich er einer menschlichen Fackel.
Sie hörte einen Schrei und schreckte schweißgebadet in die Höhe. Irritiert sah sie sich um, bis sie registrierte, dass ihr eigener Schrei sie geweckt hatte. Schwer atmend strich sie sich mit zittriger Hand die Haare aus dem Gesicht, die ihr wirr in der Stirn klebten. Keine Sekunde später klopfte es an der Tür.
„Ist alles in Ordnung, Miss?“, fragte eine Stimme von der anderen Seite der Tür.
„Ja, e-es geht mir gut“, stotterte Margaret.
„Ich habe nur schlecht geträumt“, ergänzte sie schnell und erhob sich vom Bett. Der Tag brach bereits an und tauchte das Zimmer in diffuses Dämmerlicht. Sie sah sich im Zimmer um und erblickte in der Nähe des Bettes einen Waschtisch. Sie ging darauf zu und goss Wasser in eine große weiße Porzellanschale. Sie tauchte beide Hände hinein und senkte den Kopf. Wohltuend rann das kühle Nass über ihr Gesicht. Rasch erledigte sie notdürftig ihre morgendliche Toilette und verließ, nach einem prüfenden Blick in den Spiegel, das Zimmer.

Margaret klopfte leise an Johns Tür, bevor sie zögernd eintrat. Mrs. Thornton saß immer noch am Bett ihres Sohnes. Ihr Gesicht wirkte müde, die Schultern hingen schlaff nach unten. Von der sonstigen Stärke und Dominanz war an diesem Morgen nichts zu sehen.
„Wie geht es ihm?“, fragte Margaret und blickte in Johns schlafendes Gesicht. Er wirkte nicht mehr ganz so blass wie in der Nacht zuvor.
„Ich denke, es geht ihm schon besser. Er war vor einigen Stunden für ein paar Minuten wach. Er hat starke Kopfschmerzen, was aber angesichts der Kopfverletzung nichts Ungewöhnliches ist.“
Mrs. Thornton rieb sich müde die Augen.
„Und wie geht es Ihnen?“
Die ältere Frau blickte bei Margarets Frage erstaunt auf.
„Sie sehen sehr erschöpft aus“, ergänzte Margaret.
„Nur etwas müde“, antwortete Mrs. Thornton.
„Ich werde nicht von seiner Seite weichen, versuchen Sie ein wenig zu schlafen“, sagte Margaret weich.
Mrs. Thornton überlegte einige Augenblicke und nickte schließlich: „Sie haben Recht, ich werde mich etwas hinlegen. Sie werden sicherlich hungrig sein, ich lasse Ihnen Frühstück herrichten.“
Erst jetzt merkte Margaret, dass sie tatsächlich Hunger hatte und nickte ihrer zukünftigen Schwiegermutter dankend zu.

Margaret setzte sich auf den Stuhl, auf dem bis eben Mrs. Thornton gesessen hatte und griff nach Johns Hand. Zart strich sie mit dem Daumen über seine Knöchel. Sie ließ ihren Blick über sein Gesicht schweifen: über seine geschlossenen Lider, seine Nase, Wangenknochen, seine dunklen Bartstoppeln und hielt schließlich bei seinem Mund inne. Sie musste dem plötzlichen Impuls widerstehen, sich über ihn zu beugen und ihn zu küssen. Als ob er es gefühlt hätte, öffnete er langsam die Augen und lächelte leicht, als er sie an seinem Bett sitzen sah.
Margaret legte liebevoll eine Hand auf seine Wange: „Wie geht es Dir?“
„Wenn man von den höllischen Kopfschmerzen absieht, eigentlich ganz gut“, antwortete er und küsste ihre Handfläche.
John setzte sich ein wenig auf und Margaret schob das Kissen in seinen Rücken.

Bereits wenige Tage später war John gesundheitlich wieder soweit hergestellt, dass er das Bett verlassen konnte. Das Feuer hatte zum Glück nicht soviel Schaden angerichtet wie zuerst befürchtet. Zwar war der Lagerschuppen bis auf die Grundmauern niedergebrannt, aber es konnte zumindest ein Übergreifen der Flammen auf die anderen Gebäude verhindert werden.
Allerdings gab es einen Toten zu beklagen. Leonards war Opfer des Feuers geworden, das er selbst gelegt hatte. Man vermutete, dass sein Motiv Rache gewesen war, weil er es nicht geschafft hatte, aus John einige Pfund zu erpressen. In stark alkoholisiertem Zustand hatte er wohl in der Dunkelheit die Orientierung verloren, war gestürzt und hatte schließlich sein Leben gelassen. Manchen tat er leid, die meisten weinten ihm jedoch keine Träne nach.
Genau eine Woche nach dem Feuer betrat John grimmig blickend das Wohnzimmer. Äußerlich erinnerte nur noch eine Schürfwunde in seinem Gesicht an die Verletzungen, die er davon getragen hatte. Innerlich jedoch würde er sich so schnell nicht davon erholen können. Der Schreck saß ihm nach wie vor tief in den Gliedern.
Der Ausbruch eines Feuers konnte innerhalb weniger Minuten den absoluten Ruin eines Fabrikbesitzers bedeuten. Auch wenn ihm durch den Brand ein vergleichsweise geringer materieller Schaden entstanden war, so musste er doch mit finanziellen Einbußen rechnen. Nun konnte er nur noch dafür beten, dass wenigstens seine Kunden die Rechnungen pünktlich bezahlen würden.

Williams hatte bereits wirtschaftliche Probleme gewittert und die erstbeste Gelegenheit genutzt, um zu Hamper zu laufen. Nun stand er ohne Vorarbeiter da.
„Ausgerechnet Williams“, schnaubte John „ihm hatte ich vorbehaltlos vertraut. Ich habe wirklich nicht erwartet, dass er bei den ersten Anzeichen von Problemen Marlborough Mills verlässt.“
John stützte sich mit dem rechten Arm am Fensterrahmen ab und starrte mit zusammen gekniffenen Augenbrauen in den Hof.
„Wird es denn Probleme geben, John?“, fragte Margaret besorgt und legte eine Hand auf seinen Arm.
„Ich weiß es nicht. Ich hoffe nicht. Im Moment sind die Löhne sicher.“
„Gibt es denn etwas, was wir tun können?“, wollte Margaret wissen.
„Bete darum, dass die Auftraggeber pünktlich ihre Rechnungen bezahlen. Und bete darum, dass es ein guter Sommer wird und viel Baumwollkleidung gekauft wird“, antwortete John seufzend und küsste Margaret auf die Stirn.
„Wie auch immer, ich brauche einen neuen Vorarbeiter“, John strich Margaret sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Ich denke, ich werde ein paar Worte mit Higgins reden“, sagte er, küsste ihre Hand und verließ den Raum. Margaret sah ihm lächelnd nach.
End Notes:
Dicker Dankesknuddel an Becci und Tatty fü's Beta-Lesen!
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