Was wäre wenn....? by Marianne
Summary:

Was wäre geschehen, wenn nicht Gwenda, sondern Mary erschossen worden wäre und wenn seltsame Dinge geschähen, die Philip eine neue Chance geben?


Categories: Sonstige Filme Characters: Philipp Durant
Genres: Alternative Universe, Drama, Romanze
Warnings: Alternative Universe
Challenges: Keine
Series: Keine
Chapters: 10 Completed: Ja Word count: 22376 Read: 39934 Published: 09 Jan 2008 Updated: 09 Jan 2008
Story Notes:
Disclaimer: Alle Charaktere, Orte, Schauplätze etc. sind Eigentum der jeweiligen rechtmäßigen Besitzer. Die Originalcharaktere und Originalhandlung sind Eigentum des Autors. Der Autor ist in keiner Weise mit den Besitzern, Erschaffern oder Produzenten irgendeiner Medienkonzession verbunden. Vorsätzliche Verstöße gegen das Urheberrecht sind nicht beabsichtigt.

1. Kapitel 1 by Marianne

2. Kapitel 2 by Marianne

3. Kapitel 3 by Marianne

4. Kapitel 4 by Marianne

5. Kapitel 5 by Marianne

6. Kapitel 6 by Marianne

7. Kapitel 7 by Marianne

8. Kapitel 8 by Marianne

9. Kapitel 9 by Marianne

10. Kapitel 10 by Marianne

Kapitel 1 by Marianne

Der Alkohol half nicht mehr, er machte ihn nur schläfrig und benommen, aber er spendete keinen Trost und hatte seinen Geschmack schon lange verloren. Philip hatte nicht einmal mehr die Kraft das Glas gegen die Wand zu schmeißen. Das wäre wohl zu theatralisch gewesen und es war auch niemand da, den er damit wütend machen konnte. Nie hätte er gedacht, dass er Mary einmal vermissen würde. Natürlich wäre sie nicht richtig wütend geworden. Sie hätte ihn nur vorwurfsvoll angeschaut und dann die Glasscherben weggeräumt und den Whiskey aufwendig aufgewischt. Ihre Augen hätten den mitleidigen Ausdruck angenommen, den er so gehasst hatte….der arme Philip, er ist Invalide, er kann wohl nicht anders… Das war schlimmer als jeder Wutausbruch. War er überhaupt noch ein richtiger Mensch gewesen in ihren Augen und nicht nur fast ein „Es“, das es zu bemuttern galt? Manchmal war es ihm gelungen sie für einen kurzen Augenblick aus ihrer Gleichmut zu reißen, zu reizen, zu provozieren, und dann hatte er sich fast lebendig gefühlt, aber eben nur fast. Und jetzt vermisste er sie….fast.  Er hatte nie richtig zur Familie gehört und Philip wusste, dass sie ihm die Schuld gaben an dem ganzen Vorfall. Vorfall – wie harmlos sich das anhörte; es war der Tod seiner Frau gewesen. Wäre er nicht so neugierig gewesen, dann… Neugierig! So konnte man es natürlich auch nennen. Es war ihm klar gewesen, dass keiner von den anderen auch nur das geringste Interesse daran hatte herauszufinden, wer den Mord tatsächlich begangen hatte. Mary hatte zuerst überhaupt nicht begriffen, dass nun alle unter Verdacht standen. Ihre Phantasie hatte nie ausgereicht sich solche Dinge vorzustellen – und Phantasie war eines der wenigen Dinge, die Philip noch geblieben waren.  Auf ihre Art hatte Mary ihn sicherlich geliebt, aber sie hatte nicht verstehen wollen, wie zuwider es ihm war als hilfloser Krüppel behandelt zu werden. Sie wollte ihn beschützen und das hatte sie letzten Endes das Leben gekostet. Es war so blitzschnell gegangen; er wusste selbst nicht, wie es passiert war. Philip hatte wie so oft mit einem Glas Whiskey im Halbdunkel der Bibliothek gesessen; es war zu einer ständigen Gewohnheit geworden und Mary hatte es gehasst. Fast hätte er sie bewundert für ihre Art dies auszudrücken; sie hielt ihm keine Vorträge, sondern brachte ihm eine Tasse Tee und räumte den Whiskey weg. In diesem Halbdunkel konnte er am besten nachdenken und er spürte seine Sinne, der Whiskey glitt über seine Zunge und hatte einen ganz anderen Geschmack als sonst. Das Halbdunkel war gnädig; er sah sich nicht selbst im Rollstuhl sitzen, sah nicht das Mitleid in Marys Augen und die Ablehnung in den Augen der anderen.  

Seltsamerweise war ihm, selbst als er fast sicher war, dass Kirsten den Mord begangen hatte, nie in den Sinn gekommen, dass er selbst in Gefahr sie könnte. Eigentlich verrückt, denn warum sollte sie zögern ihn zu beseitigen, zumal sie ihn nie gemocht hatte? Er hatte Mary nichts von seinem Verdacht erzählt, es war reiner Zufall gewesen, dass sie in der Bibliothek gewesen war. Kirsten hatte sie nicht bemerkt und als sie das Messer erhoben hatte; hatte Mary einen Schrei ausgestoßen und sich vor ihn geworfen. Hatte sie überhaupt gewusst, was sie da tat? Wahrscheinlich nicht. Wie im Wahn hatte Kirsten zugestoßen, wieder und wieder; Mary hatte keine Chance gehabt. Er selbst hatte nur eine Wunde am Arm davongetragen, schmerzhaft, aber nicht lebensgefährlich. Mickey und dieser Professor, der die ganze Sache angestoßen hatte, waren aus dem Nebenraum hereingestürzt und hatten Kirsten überwältigt. Philip hatte lange genug Zeit gehabt über seine Beziehung zu Mary nachzudenken. Ihre ruhige Art hatte ihm damals gefallen und sie war eine hübsche junge Frau gewesen. Er war Pilot gewesen und hatte gut ausgesehen, aber seine Eltern waren einfache Leute ohne Geld. Die Verbindung erschien ideal, eine Frau, die einmal eine beachtliche Summe Geld erben würde und die nicht zu anhänglich zu sein schien. Es hatte nicht lange gedauert, bis Philip seinen Irrtum bemerkt hatte. Mary war eine gleichmütige Person ohne große Passionen – bis auf ihn. Sie hatte nicht einmal Kritik geäußert, als Philips geschäftliche Unternehmungen scheiterten; das war nicht so wichtig für sie gewesen, während es an ihm genagt hatte. Irgendwann würde er es allen beweisen. Bis dahin hatte er es zumindest verstanden sich Freiräume zu schaffen, doch dann hatte die Polio alles verändert.  

Nie würde er den Tag vergessen, als der Arzt ihm gesagt hatte, dass er nie wieder würde laufen können, die Wutanfälle, die Resignation und die Frage, die immer wieder in ihm aufgetaucht war, ob er nicht einfach ein paar Tabletten mehr schlucken sollte. Mary hatte sich aufopferungsvoll um ihn gekümmert; sie war überhaupt gut in der Opferrolle  - Die arme junge Frau, ja was hat sie jetzt noch von ihrem Leben, wenn sie ständig ihren Mann pflegen muss! - und nach nur ein paar Monaten hatte er sie fast gehasst. Sie hatte ihn erstickt, langsam aber sicher erstickt. Philip war immer ein Mensch gewesen, der distanziert und auf manche überheblich wirkte. Er wusste seinen Charme einzusetzen, er war verbindlich und freundlich, aber er betrachtete andere wie Menschen durch eine Glasscheibe; er sah sie, aber er war nicht dabei. Er war in Mary verliebt gewesen, aber es war nie ein Gefühl gewesen, das sein ganzes Wesen ergriffen hatte. Philip erinnerte sich noch gut, als ein sein Freund Matt ihm erzählt hatte, dass er heiraten würde, dieses Leuchten in seinem Gesicht, dieses Strahlen, dieses offensichtliche Glück; Philip hatte so etwas nie gekannt und hatte sich gefragt, ob er vielleicht gar nicht zu wahrer Liebe fähig war. Das war so anders  als die Gefühle, die er für Mary gehabt hatte, die zwar angenehm waren, aber nie mehr. Aber wie sollte er etwas vermissen, was er überhaupt nicht kannte? Seine Eltern hatten gut für ihn gesorgt, aber sie waren nie herzlich gewesen. 

Mary hatte Philip ihren Eltern erst kurz vor der Hochzeit überhaupt vorgestellt, als hätte sie geahnt, dass zumindest ihre Mutter gegen die Verbindung sein würde. Und natürlich war er nicht gut genug gewesen. Ein unvermögender Pilot, das war nicht die Partie, die eine Mary Argyle machen konnte. Doch Mary, die nie laut wurde und die sonst meist nachgab, blieb hart: Sie wollte ihn heiraten und niemand anderen.  

Philip nahm noch einen Schluck Whiskey, dann stellte er das Glas angewidert auf den kleinen Tisch neben sich. Früher hatte er die Ruhe und Einsamkeit oft gesucht, aber jetzt…Geld hatte er genug, aber was sollte er damit? Marys Anteil am Treuhandfonds war auf ihn übergegangen und er war ein reicher Mann. Das war es doch, was er immer gewollt hatte, oder? Es war still im Haus. Die Putzfrau würde morgen wieder kommen und bis dahin war er allein. Sie sprach kaum ein Wort, aber er hörte immer ihre Schritte, hörte, wie sie mit dem Geschirr hantierte, Wasser laufen ließ, den Eimer hin und her schob.  

Jetzt hatte er nicht einmal mehr die Möglichkeit an Tabletten zu kommen und eine Waffe besaß er nicht. Und sich zu Tode trinken? Was für eine Aussicht! Die Bibliothek war der schönste Ort im Haus, nicht nur, weil er gerne aus dem Fenster in den Garten schaute. In ihr spürte er die Einsamkeit nicht so, auch wenn er allein war. War es Zufall gewesen oder hatte Mary einen verborgenen Zug gehabt, den er nicht gekannt hatte? – Es gab nicht nur wertvolle Bücher hier mit kostbaren Ledereinbänden, die den Eindruck von Gediegenheit vermittelten, den Mary so geliebt hatte, sondern es gab Bücher, die Philip mittlerweile lieben gelernt hatte. An manchen Tagen schafften sie es ihn aus seiner Lethargie zu reißen und manchmal dachte er, dass es vielleicht die Bücher waren, die ihn davon abhielten doch nach einem Weg zu suchen seinem Leben ein Ende zu setzen.  

Ein kleines Buch mit einem inzwischen schäbig gewordenen weinroten Einband lag auf dem kleinen Kaffeetisch. Philip griff danach; er brauchte kein Lesezeichen, es fiel immer an der gleichen Stelle auf. Gedichte, das Gedicht! Worte, und doch so viel mehr als Worte. Es hatte ihn wie ein Schlag getroffen, als er es gelesen hatte. Philip Durrant und Gedichte; früher hätte er es lächerlich genannt. Sein Blick glitt über die Worte, wieder und wieder, bis alles verschwamm und das buch aus seinen Fingern zu Boden fiel. Verdammt! Wie war er geworden, was war er geworden? Ein gefühlsduseliger Krüppel, der losheulte, wenn er ein Gedicht las. Vielleicht war es doch nur der Alkohol. Philip nahm das Glas und fuhr mit seinem Finger darüber, blickte in die bernsteinfarbene Flüssigkeit. Das Licht der Lampe brach sich in den Facetten des Glases; es sah schön aus und harmlos. Und dann warf er das Glas doch gegen die Wand.  

Er war müde, einfach müde, aber er beugte sich herunter und hob den Gedichtband wieder auf. Er strich die Seiten glatt und begann wieder zu lesen. Warum sollte er auch ins Bett gehen? Er würde sowieso nicht schlafen können, sondern Stunden wach liegen. Manches Mal hatte er schon den Sonnenaufgang vom Fenster der Bibliothek aus beobachtet. Er blätterte die Seite um. Seltsam, wieso hatte er dieses Gedicht früher nie bemerkt? Er war sich sicher, dass er den Band so oft durchgelesen hatte, dass er jedes Gedicht kannte. Er blätterte zurück….Die Seiten waren leer. Was war das?

 

 „Lieutenant Durrant, möchten Sie noch ein Glas?“ Wie von weit her hörte er eine Stimme und dann schlug ihm jemand auf den Rücken. „Sag mal, Philip, verträgst du nix mehr? Als ich euch in die Bar eingeladen habe, weil ich mich verlobt hab’, war ich sicher, dass du uns alle unter den Tisch trinken würdest. – Oh, Mann, ich glaub du gehst wirklich besser nach Hause, so wie du aussiehst. Weißt du noch, wer ich bin?“ Ein junger Mann mit blonden Haaren und blauen Augen grinste ihn an – Matt! Er musste mehr getrunken haben als er gedachte hatte. Der Traum war so echt. Es war auf einem Heimaturlaub gewesen, als er mit Matt und den anderen Kameraden wirklich in der Bar gesessen und die Verlobung begossen hatte. Sie hatten getanzt wie die Wilden und er hatte in der Tat  alle unter den Tisch getrunken.  Ein seltsamer Traum. Philip hörte die Stimmen im Hintergrund, roch sogar den Whiskey in Matts Atem. Konnte man im Traum Gerüche wahrnehmen? „Noch ein Glas, Lieutenant Durrant?“ wiederholte der Barkeeper und Philip schüttelte den Kopf und stand auf. Wenigstens im Traum konnte er noch gehen. Matts Verlobung, sein Strahlen; er war einmal Philips bester Freund gewesen, Jetzt hatte er ihn schon fast zwei Jahre nicht mehr gesehen; Philip hatte keine mitleidigen Blicke sehen wollen und den Kontakt abgebrochen. Müde machte sich Philip auf den Weg nach Hause. Er lächelte, so einen echten und logischen Traum hatte er noch nie gehabt. Meist ging bei ihm alles wirr durcheinander, wenn er sich überhaupt erinnerte, was er geträumt hatte. Die Straßen waren nass und Philip sog die  kalte frische Luft in vollen Zügen ein. Es waren kaum noch Menschen unterwegs und seine Schritte hallten auf dem Pflaster. Wie war es gewesen zu gehen? Schritte auf dem Pflaster, das Gefühl seine Beine zu spüren, auszuschreiten, laufen, rennen…. Philip schloss die Tür zu der kleinen Pension auf, in der er übernachtete. Das Treppenhaus roch etwas muffig; seltsam, auch hier erinnerte er sich im Traum daran, wie es gewesen war. Nach einer Katzenwäsche fiel Philip ins Bett und schlief fast augenblicklich ein. 

 Die Sonne kitzelte ihn an der Nase und Philip öffnete langsam die Augen. Nur langsam fand er wieder zu sich. Alles schmerzte, er konnte seine Schulter kaum bewegen. Anscheinend war er in seinem Rollstuhl eingeschlafen – ein Wunder, dass er erst jetzt wach wurde. Stöhnend fuhr er sich mit den Händen durch das Gesicht und schaute sich dann um. Die Glasscherben vom vorigen Abend lagen auf dem Boden vor dem Kamin und neben dem kleinen Tischchen lag sein Gedichtband, der ihm wohl irgendwann aus den Händen geglitten war. Er hob das Buch auf, legte es vorsichtig auf den Tisch und rollte dann ins Badezimmer. Der Tag war grau, aber jetzt waren fast alle Tage grau. Die Putzfrau war inzwischen wieder gegangen. Sie hatte ihm Frühstück bereitet, ihm dann einen Auflauf in den Ofen gestellt und etwas Salat gemacht. Philip legte ihr das Geld immer auf den Küchentisch; er hatte keine Lust sich mit ihr zu unterhalten, worüber auch? Die letzten Gemüsepreise oder die Frage, ob Mrs. Smith von Harridan Cottage sich scheiden lassen würde?  Nachdenklich betrachtete Philip den Whiskey. Einen schöneren und wirklicheren Traum als gestern hatte er noch nie gehabt; nicht einmal einen Kater hatte er. Aber es wurde Zeit, dass er sich mit der Zukunft befasst - wenn er denn überhaupt eine Zukunft hatte. Fast war das Geld, das er geerbt hatte, wie ein Fluch, denn es enthob ihn der Notwendigkeit für seinen eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Das Vermögen aus dem Fonds würde ohne Schwierigkeiten bis an sein Lebensende reichen, denn wofür sollte er jetzt auch viel Geld ausgeben. Autos? Er konnte nicht mehr fahren. Reisen? Er hasste es angestarrt zu werden. Bücher waren das einzige, womit er sich noch beschäftigte.  

Dieser Traum! Sollte er Matt schreiben? Philip hatte Matt immer beneidet, wie unkompliziert und optimistisch er alles sah. Philip selbst war ein Planer, aber manches ließ sich nicht planen, und manches ließ sich nicht verhindern. Vielleicht hätte sich die Polio verhindern lassen. Philip hatte gelesen, er war bei Ärzten gewesen; gab es eine Heilungsmöglichkeit? Würde die Lähmung verschwinden? Inzwischen wusste er, dass dies nicht der Fall sein würde; er würde für immer im Rollstuhl sitzen. Sein Intellekt war ihm geblieben; er war schärfer als je zuvor, aber wohin hatte es ihn gebracht? War er nicht schuld an Marys Tod? Er brauchte eigentlich nicht weiter zu überlegen, wie seine Zukunft aussehen würde; ein Tag würde dem anderen folgen, grau, wie dieser Tag auch war. Jetzt fing es draußen an zu regnen, aber was kümmerte es ihn? Philip rollte zum Schreibtisch; irgendwo hatte er Matts Adresse, zusammen mit einigen Fotos, die er ihm geschickt hatte, Fotos von seiner Frau und seinem kleinen Jungen, den er Philip genannt hatte. Vielleicht war der Traum ein Zeichen. Philip lachte kurz und verächtlich auf. Als ob er jemals an so etwas geglaubt hätte! Er nahm einen Bogen Papier und begann zu schreiben. Der Postbote würde ihn mitnehmen, wenn er die Bücher brachte, die Philip bestellt hatte. Philip saß mit seinem Kaffee wie immer in der Bibliothek. Der Gedichtband schien ihn anzuschaun. Was war das für ein Gedicht, das er da im Traum gelesen hatte? Ein deutscher Dichter, soweit erinnerte er sich, aber wie war der Name? Und worum war es in dem Gedicht gegangen? Philip nahm den Band zur Hand und fühlte sich erneut in den Worten versinken. Es war seltsam. Er war immer ein nüchterner Mensch gewesen, dem Gefühle fast suspekt waren, jetzt wünschte er sich nichts sehnlicher, als nach dem, was er in sich spürte, handeln zu können, als lieben zu können, als alle Sinne gebrauchen zu können. Vielleicht sollte er wenigstens jemanden anstellen, der ihn regelmäßig ausfuhr. Seine Arme waren noch stark, aber es war unmöglich den Rollstuhl über Meilen zu bewegen.  

Er blätterte um. Philip blinzelte in die Morgensonne und schloss die Augen dann schnell wieder. Sein Kopf schmerzte. Das war definitiv zu viel gewesen gestern, sowohl der Alkohol als auch das Tanzen. Mit einem Ruck war Philip wach. Wo war er wieder? Der Traum, er setzte sich fort und das nicht in der Nacht, sondern am Tag. Es war nicht der Alkohol gewesen, außer Kaffee hatte er den ganzen Tag über nichts getrunken. Was war das? Hatten die Tabletten, die ihm Dr. Myers verschrieben hatte, irgendwelche Nebenwirkungen oder wurde er verrückt? Philip schaute sich um. Er lag im Bett in der schäbigen Pension, die er schon gestern im Traum gesehen hatte. Er spürte seinen Körper, er spürte seine Beine! Der Boden war der gleiche alte Teppich, den er damals dort gesehen hatte, abgetreten und mit Falten darin. Sogar der Fleck, wo ihm einen Tag vorher die Rotweinflasche umgekippt war, war zu sehen. Nein, das war nicht einen Tag vorher. Er saß in Wirklichkeit einige Jahre später in der Bibliothek seines Hauses in einem Rollstuhl und las ein Buch. Nachher würde er wieder aufwachen, aber woraus aufwachen? Was war das? 

 

    
Kapitel 2 by Marianne

 Er wusch und rasierte sich; es fühlte sich gut an nach dieser langen Zeit wieder auf seinen Beinen zu stehen, das Kribbeln in den Zehen zu spüren, auch wenn es nur ein Traum war. Philip schaute sich im Spiegel an; ja, so hatte er damals ausgesehen, als noch alles möglich war, als ihm die Welt noch offen stand. Der bittere, zynische Zug um den Mund fehlte. Während er die restliche Rasierseife wegwischte, klopfte es an der Tür. „Einen Moment!“ rief er und zog sein Hemd über. Das musste Mary sein. Sie war damals in die Pension gekommen und hatte ihn abgeholt um ihn ihren Eltern vorzustellen. Philip knöpfte sein Hemd zu, öffnete die Tür und blickte auf die junge Frau, die ihn mit leuchtenden Augen anschaute. Damals hatte er sich geschmeichelt gefühlt, aber jetzt wusste er, was kommen würde. Was kommen würde? Was redete er da für einen Unsinn! Das war ein lebhafter Traum, nichts weiter, auch wenn er sich verdammt echt anfühlte. 

Mary war eine hübsche junge Frau mit ebenmäßigen Zügen und einer ruhigen Eleganz. Ihre Haare trug sie in einem Chignonknoten und an ihren Ohren hatte sie kleine Perlenohrringe. Sie schaute sich im Zimmer um, während Paul sein Jackett holte. „Oh, sagte sie, “ Ich wusste gar nicht, dass du Gedichte liest.“ Paul erstarrte. Der kleine zerlesene Gedichtband lag auf dem Nachttisch neben seinem Bett. „Ich kann mit Gedichten nichts anfangen.“ fuhr Mary stirnrunzelnd fort und blätterte achtlos durch den Band. Philip hätte sie am liebsten angefahren, sie solle das Buch wieder hinlegen, aber er beherrschte sich. „Bist du fertig? Können wir gehen?“ Mary lächelte ihn an und er wusste wieder, warum er sich damals in sie verliebt hatte. Während er die Tür öffnete und ihr den Vortritt ließ, schaute er noch einmal auf den Nachttisch zurück. Im kleinen Frühstückszimmer der Pension war bereits für ihn gedeckt. Die Wirtin brachte ihm Tee und er aß schweigend. Die Höflichkeit hätte es geboten, dass er sich mit Mary unterhielt, aber er fühlt sich unwohl in ihrer Gegenwart, wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Wieso war er in einem Traum und wusste, was passieren würde? Träume waren anders und wieso träumte er am helllichten Tag? Etwas war anders gewesen – er hatte damals keine Gedichte gelesen und diesen Band hatte er erst viel später gekauft. 

Rachel Argyle empfing ihn mehr als zurückhaltend. Es war offensichtlich, dass sie sich für ihre Tochter jemand anderen als Ehemann gewünscht hätte. Es war seltsam, aber diesmal war Philip im Vorteil; er kannte sie bereits, wusste alles von ihr, er wusste, wie sie versuchen würde Mary von den Ehe abzubringen und seltsamerweise fühlte er sich jetzt besser als vorhin in der Pension. Hier in diesem Traum hielt er die Fäden in der Hand und konnte den Ablauf der Dinge ändern. Hier war er der Herr des Geschehens. Damals hatte er versucht Rachel Argyle zu beeindrucken; er war verliebt gewesen und Mary war eine Frau gewesen, die einmal ein Vermögen erben würde, was nicht unwichtig für ihn war. „Mr. Durrant, was werden Sie machen, wenn der Krieg zu Ende ist? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, waren Sie vorher an der Universität und haben alte Sprachen studiert. Das ist sicherlich sehr interessant, allerdings….“ Sie beendete den Satz nicht, sondern nahm einen Schluck Tee und schaute Philip bedeutungsvoll an.  Ja, er hatte einmal Pläne gehabt zu investieren und Rachel Argyle zu beweisen, dass sie mit ihrem Urteil ihm gegenüber Unrecht hatte. Jetzt wusste er, dass dies nicht sein Weg war. Es war nicht nur Pech gewesen; er hatte einfach nicht die Nase und die Skrupellosigkeit für bestimmte Geschäfte. „Ich habe einen guten Abschluss gemacht und ich werde versuchen zu lehren. Einer meiner Professoren wird mich in Oxford empfehlen.“ 

Mary blickte ihn überrascht an. „Das hast du mir ja gar nicht gesagt, Philip. Ich dachte du wolltest etwas mit Finanzen machen. Du möchtest Professor werden?“ Leo Argyle, der bisher nur höflich dabeigesessen hatte und außer ein paar Begrüßungsworten noch nichts zum Gespräch beigesteuert hatte, schien angenehm berührt. „Erzählen Sie mir mehr, Mr. Durrant,“ bat er und Philip merkte, dass er dieser Bitte gerne nachkam.  Als der Nachmittag zu Ende kam, wusste Philip, dass er bei seiner zukünftigen Schwiegermutter keinerlei Pluspunkte hatte sammeln können, aber das hatte er auch nicht erwartet. Dies war ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen. Leo Argyle dagegen hatte ihm freundlich die Hand geschüttelt. Mary war den ganzen Nachmittag über recht schweigsam gewesen. Erst als sie im Auto saßen, sprach sie ihn an. „Philip, warum hast du mir vorher nichts darüber gesagt? .Mutter war nicht begeistert, als sie hörte, dass wir heiraten wollen, und deine Pläne an einer Universität zu lehren…Ich weiß nicht warum, aber sie hat so etwas immer als brotlose Kunst bezeichnet und jetzt…“ 

Philip schaute Mary sinnend an. „Es ist mir selbst erst kürzlich klar geworden.“ Er zögerte. „Vielleicht sollten wir unseren Entschluss zu heiraten, noch einmal überdenken, wenn du ein Problem damit hast.“ 

„Nein, Philip! Natürlich nicht, es ist nur…Ich möchte, dass du glücklich bist.“ Das hatte sie ihm sehr oft gesagt, aber sie hatte ihn erstickt. „Philip? Bist du dir…bist du dir nicht mehr sicher?“ Philip schaute auf Mary herunter, die ihn fast flehend ansah, sah die Unsicherheit in ihrem Blick. Nein, er war nicht mehr sicher, aber das konnte er ihr nicht sagen und erst recht nicht, warum. Also lächelte er sie an und küsste sie zart auf den Mund. „Doch, Mary, ich bin mir sicher.“ An der Tür zur Pension verabschiedete er sich von Mary. Sie hatte noch verschiedene Sachen zu erledigen und Philip würde morgen wieder zu seinen Kameraden zurückkehren. „Ich liebe dich, Philip,“ sagte Mary und er streichelte ihre Hand zart zum Abschied. Philip schloss die Tür zu seinem Zimmer auf und war mit zwei Schritten neben seinem Bett. Liebevoll glitten seine Finger über das Leder und er schlug das Buch an der Seite auf, wo ein Lesezeichen herausschaute.  

Christian Morgenstern….. Er hatte nie ein Gedicht von Christian Morgenstern gelesen, geschweige denn in seinem Gedichtband gehabt.

 

 Sein Lieblingsgedicht war von Shakespeare. Nicht mit den Augen lieb ich dich. Die sehen genau, dass, dass du voll Fehler bist. Es ist mein Herz, das liebt, was sie verschmähn. Und dir, trotz Augenschein verfallen ist…Als er dieses Gedicht zum ersten Mal gelesen hatte, hatte es ihn wie ein Blitz getroffen und er fragte sich später, ob er sich da insgeheim eingestanden hatte, für wen er so empfand und nicht empfinden durfte. Nein, Morgenstern war ihm völlig fremd. Philip blätterte vor und zurück, aber natürlich fand er nichts von diesem Dichter. Er würde wirklich mit Dr. Myers sprechen müssen. In jedem Fall würde er weder das Buch noch den Whiskey in den nächsten Tagen anrühren. 

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Das Wetter hatte sich aufgeklart und die Luft war frisch. Philip hatte einen Entschluss gefasst; er rief den Wildhüter an und dieser war froh sich ein paar Shillinge dazu verdienen zu können, indem er Philip im Rollstuhl ausfuhr. Philip war dankbar, dass der Mann anscheinend keinen Drang verspürte ein Gespräch anzufangen. Er genoss die Luft, die Farben der Wolken und den Geruch der Pflanzen. Wie sich die Wünsche verschoben! Früher hatte er keinen Gedanken daran verschwendet; das alles war einfach da gewesen. Die Polio hatte nicht nur sein Leben, sondern auch ihn selbst verändert. Zwei Tage später kam Dr. Myers zu einer der Routineuntersuchungen. Philip hatte nicht mehr geträumt, aber trotzdem fragte er den Hausarzt nach Nebenwirkungen der Tabletten. Myers runzelte die Stirn. Nein, soweit er wusste, gab es keine Nebenwirkungen dieser Art. Es untersuchte Philips Augen und stellte weitere Fragen, die Philip jedoch mit einem Lächeln herunterspielte. Er legte keinerlei Wert darauf für verrückt gehalten zu werden. Wahrscheinlich ist es normal nach diesen Erlebnissen einige Träume zu haben,“ meinte er und der Arzt nickte. 

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Philip trank seinen Tee und las zum ersten Mal seit langer Zeit die Times wieder mit Interesse. Die Träume hatten doch ihr Gutes gehabt, denn er hatte so etwas wie Lebensfreude wieder gewonnen. Der Postbote brachte wenig später die Bücher, die Philip bestellt hatte und einen Brief, den er erst einmal zur Seite legte. Manche dieser Bücher hatte Philip sich aus Antiquariaten oder von Auktionen besorgen lassen, es waren gälische Schriften darunter und natürlich auch einige Klassiker in besonderen Ausgaben. Dann griff er, noch in Gedanken versunken, nach dem Brief. - Jeremy Brickdon, University of Oxford  - Der Absender war ihm unbekannt. Philip hielt den Brief für ein paar Momente unschlüssig in der Hand, bevor er zum Brieföffner griff. 

Lieber Philip, 

Du wirst dich wundern, dass ich mich so lange nicht bei dir gemeldet habe. Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was ich tun sollte, als Du nach deiner Krankheit deine Kündigung schriebst, weil Du, wie Du sagtest, keine Lust hättest, dich im Rollstuhl in den Vorlesungssaal zu setzen und anstarren zu lassen. Jetzt drängte es mich Dir zu schreiben. Wir waren keine Freunde, aber Du warst ein guter Kollege. Dein Nachfolger konnte dir nicht das Wasser reichen und er wird uns zum Ende des Semesters verlassen. Dies ist also ein halb offizieller Brief. Der Dekan wäre mehr als froh, wenn Du zurückkämst. Ich würde mich freuen von Dir zu hören. Bitte ruf mich an. 

Jeremy Brickdon 

Wie versteinert saß Philip da und starrte auf den Brief. Er hatte Leo Argyle gesagt, dass er nach dem Krieg an die Universität in Oxford wollte, aber das war ein Traum gewesen. Es gab keine Möglichkeit, dass irgendjemand von diesem Traum wusste und ihm einen Streich spielen wollte. Philip untersuchte das Briefpapier; es sah echt aus und trug den Briefkopf der Universität. Darauf war auch eine Telefonnummer vermerkt. Er wählte. „Hallo, University of Oxford….“  

„Guten Tag, ich hätte gerne Professor Brickdon gesprochen…“ 

„Einen Moment bitte…“  Philip hängte auf. Seine Finger zitterten. Die andere Möglichkeit war noch unwahrscheinlicher, nicht nur unwahrscheinlicher, sie war unmöglich. Er war ein erwachsener Mann und glaubte nicht an solche Sachen. Hatten die Träume etwas verändert? Sie waren immer dann aufgetreten, wenn er den Gedichtband zur Hand genommen hatte. In den vergangenen Tagen hatte er ihn nicht angerührt und er lag noch immer auf dem kleinen Tischchen in der Bibliothek. Philip rollte hinüber und griff danach. Er schlug das Buch auf  und sein Blick fiel auf Morgensterns Gedicht. Diesmal gelang es ihm sich die erste Zeile zu merken…Palmströms Uhr ist andrer Art…  

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Der Foliant, das er in den Händen hatte, wog mindestens sechs Kilo und wäre ihm beinahe aus den Händen gefallen. Philip fand sich vor einem Regal stehend, in den Händen ein Buch von Aristoteles. „Willst du nicht eine Pause machen, Philip?“ Mary hielt ein Tablett mit Keksen und Tee in ihren Händen und lächelte ihn an. „Ich bin noch nicht fertig mit meinen Vorbereitungen, vielleicht in einer Stunde,“ erwiderte er automatisch und fragte sich sogleich, woher er das wissen wollte. Mary runzelte die Stirn. „Es tut dir aber nicht gut, wenn du so viel arbeitest. Ich weiß, dass du deine Arbeit ernst nimmst, aber du übernimmst dich. Außerdem wollten wir später noch zu meinen Eltern fahren. Du weißt, dass sie uns zum Dinner erwarten.“ Der Vorwurf in ihrer Stimme war nicht zu überhören.  Schon wollte er seufzend das Buch beiseite legen, da wurde ihm bewusst, wie sehr er sich wieder von ihr manipulieren ließ. Die nach außen so sanftmütige Mary besaß einen eisernen Willen und Philip war klar, dass er sich in der Vergangenheit-  was war jetzt überhaupt Vergangenheit? – einiges hatte bieten lassen, da er viel von ihrem Geld in riskanten Geschäften verloren hatte. War er ein Waschlappen geworden, der seine Frustration in Whiskey ertränkte und sich zu nichts mehr aufraffen konnte? Er hatte es satt, wirklich satt, und es wurde Zeit, dass er etwas änderte. Er hätte Mary nie heiraten dürfen; er ging langsam aber sicher an dieser Ehe kaputt und er wusste jetzt auch, dass er sie nie richtig geliebt hatte. Was hatte sich geändert? Er hatte einen anderen Beruf ergriffen, er hatte keine großen finanziellen Verluste erlitten, aber alles andere war unverändert geblieben. Seine Ehe mit Mary war so geworden, wie er es vor ein paar Tagen befürchtet hatte – waren es ein paar Tage oder was war überhaupt mit der Zeit los?Das Schlimme war, er wusste selbst nicht, wer er war. Im Krieg war er Pilot gewesen und Matt hatte einmal gesagt, er sei im Cockpit der schlimmste Draufgänger, den er je kennen gelernt hatte. Das hatte Mary offensichtlich angezogen. Sie selbst war immer sehr ruhig und auf Sicherheit bedacht gewesen und Philip wusste, dass sie sich selbst als langweilig empfand. Vielleicht sollte er der Ausgleich sein für etwas, was sie selbst nicht besaß. Seltsamerweise war auch er im sonstigen Leben eher ruhig; war das auch für ihn ein Ausgleich gewesen? Und jetzt als Professor? War er einfach ein Langweiler geworden? Und bekam er jetzt die Chance etwas zu ändern? 

„Setz dich, Mary,“ sagte er. Sie öffnete den Mund zu einer Erwiderung. „Setz.dich!“ wiederholte er und Mary besann sich eines Besseren und setzte sich. „Ich vermute, wir haben beide von dieser Ehe etwas anderes erwartet. Du hast einen Piloten geheiratet und der ist jetzt Professor und wohl für dich eine Enttäuschung. Aber auch ich hatte andere Vorstellungen und eine davon ist, dass ich ein eigenständiger Mensch bin, der seine Entscheidungen selbst trifft. Wie es zwischen uns weitergeht, wird mit daran liegen, ob du das respektierst.“ 

Mary starrte ihn an:. Anscheinend hatte er noch nie so mit ihr geredet. Sie erwiderte nichts, aber ihre zusammengekniffenen Lippen verrieten, wie ärgerlich sie war. 

 

Kapitel 3 by Marianne

Leo Argyle begrüßte ihn herzlich und Philip wusste, dass sich eine Freundschaft zwischen ihm und seinem Schwiegervater entwickelt haben musste. Was er nicht verstand war, wieso ihm jegliche Kenntnis hiervon fehlte. Er war die gleiche Person, aber er starrte wie ein Fremder auf das Geschehen. Vieles war gleich, aber durch seine Entscheidung einen anderen Beruf zu ergreifen befand er sich in einer Vergangenheit, die sich offensichtlich geändert hatte. Micky und Tina waren höflich, aber anscheinend hatte er keine nähere Beziehung zu ihnen. Ebenso offensichtlich war die Zurückhaltung von Rachel Argyle; sie war eine Frau, die sich an ihre Adoptivkinder klammerte, die meinte bestimmen zu können, was gut für diese Kinder, die schon lange keine mehr waren, war; ein Professor, auch wenn es an der Universität Oxford war, war nicht ganz das, was sie sich als Schwiegersohn vorgestellt hatte.  

Er lächelte Hester kurz zu und sie grüßte ihn kurz aber kühl, wie dies ihm gegenüber immer ihre Art war. An Marys Gesichtsausdruck sah er, dass selbst sein kurzes Lächeln ihr nicht gefiel. Der Abend verlief dennoch angenehm, bis ein Blick auf den Kalender Philip erstarren ließ: Es war der 14. Oktober, der Tag, an dem Jacko hier aufgetaucht war und seine Mutter angegriffen hatte, weil sie nicht bereit war für seine Schulden weiter aufzukommen. Philip nahm einen Zigarillo aus seinem Etui und schaute auf seine Uhr. Es würde nicht mehr lange dauern und Jacko würde kommen. Er erinnerte sich gut; Rachel Argyle hatte sich das erste Mal in ihrem Leben geweigert und Jacko war ausgerastet und hatte sie gewürgt. Der Mord war nicht lange danach geschehen. Es nutzte nichts, dass er jetzt wusste, was geschehen würde. Wer würde ihm glauben? Im Gegenteil, wenn er Jacko oder Kirsten konfrontierte, wären sie gewarnt und würden ihren Plan ändern. Er musste etwas tun ohne dass sie bemerkten, dass er Bescheid wusste. Philip griff nach seinem Whiskeyglas und drehte es in seiner Hand. Dann stürzte er die Flüssigkeit hinunter und stand auf; er würde Jacko erwarten.

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„Jacko!“ sagte Philip herablassend und Jacko runzelte die Stirn. Was wollte Philip von ihm? Er hatte den Ehemann von Mary nie weiter beachtet. Philip stand vor der Haustür und machte keine Anstalten auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu weichen.. „Du bist hier nicht erwünscht, Jacko“, sagte Philip ruhig, aber bestimmt.  

„Ich glaube nicht, dass du hier etwas zu sagen hast, “ zischte Jacko, doch dann verstummte er im Bewusstsein, dass es wohl besser wäre vorsichtig zu sein.  Er hatte Philip noch nie so entschlossen gesehen und wurde sich bewusst, dass er ihn wohl unterschätzt hatte. Philip war bei der Luftwaffe gewesen; er war knapp 1,90 groß und breitschultrig und Jacko wusste, dass er hier nur verlieren konnte. Weder würde er Philip überreden können ihn doch noch hereinzulassen noch hatte er Aussicht einen Kampf zu gewinnen. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging davon, seine ganze Haltung ein beredtes Zeichen seiner unterdrückten Wut.  Philip wartete noch eine Weile und ging dann wieder ins Haus. Niemand hatte den Zwischenfall bemerkt.  

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Hester blickte hoch, als er den Raum betrat. Er schien in Gedanken und schaute sie nicht an. Mary saß noch immer neben ihrer Mutter und unterhielt sich mit ihr. Hester hatte eine leichte Spannung zwischen ihr und Philip bemerkt; Marys Unterlippe war leicht vorgeschoben, wie immer, wenn sie schmollte.  Verstohlen betrachtete sie Philip. Er sah noch besser aus als damals, als Mary ihn das erste Mal zum Essen mitgebracht hatte. Seine dunklen Haare fielen ihm in die Stirn; er hatte helle, grau-blaue Augen, die sie jedes Mal zu durchdringen schienen, wenn er sie anschaute. Am meisten jedoch liebte sie sein Profil. Er hatte keine kleine Nase, aber jede andere hätte in diesem Gesicht falsch ausgesehen. Auf Anhieb hatte sie sich in Philip verliebt, sich jedoch nie etwas anmerken lassen. Zu Anfang hatte sie sich eingeredet, sie sei leicht zu begeistern und es sei nur eine harmlose Schwärmerei für ihren gut aussehenden Schwager. Doch bald merkte sie, dass es mehr war. Sie träumte von seiner Stimme, sah im Traum seine langen schlanken Finger, die sie und nicht Mary liebkosten.   

Sie ertappte sich, wie sie ihn immer wieder anstarrte, wenn er zu Besuch war, wie sie jede seiner Bewegungen verfolgte. Sie war mit Mary nie ausgekommen, aber sie würde ihr nie den Mann stehlen. Das Ganze musste ein Ende haben; sie musste sich Philip aus dem Kopf schlagen – Hester begann auf Distanz zu Philip zu gehen und wechselte kaum mehr als ein paar Worte mit ihm. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass ihre Gedanken immer wieder zu ihm wanderten. Sie hatte sich damals gefragt und fragte sich immer noch, warum Philip Mary geheiratet hatte. Natürlich war eine der ersten Vermutungen das Vermögen gewesen, das für Mary und ihre Geschwister in einem Fonds angelegt war,  - und auch jetzt konnte Mary fast beliebig viel Geld ausgeben - aber sie hatte sich wohl getäuscht, denn Philip lebte fast ausschließlich von seinem Einkommen als Professor.  

Hester gestand ihrer Schwester zu, dass sie wirklich gut aussah; sie war zierlich und hatte eine ebenmäßiges, fast madonnenhaftes Gesicht und auf den ersten Blick ein ebenso sanftes Wesen, aber Hester als ihre Schwester wusste, dass dies täuschte. Nur bei ihrer Adoptivmutter hatte sich fast immer nachgegeben, wohl wissend, was sie tat.  

Marys Eleganz war etwas, worum Hester sie immer beneidet hatte; sie selbst war schon als Kind ein Wirbelwind gewesen, das sich überall die Knie aufgeschlagen und die Kleidung beschmutzt hatte. Mary war die Brave gewesen, der blonde Engel, der nie etwas anstellte und von allen bewundert wurde. Einzig Leo Argyle hatte die wilde Hester bevorzugt, was von Mary nicht gut aufgenommen wurde. Mary hatte immer etwas Besitz ergreifendes an sich gehabt und sie machte auch schnell klar, dass ihr Ehemann ihr „gehörte“. Mary begriff nicht, wieso sich Philip so viel gefallen ließ.  Philip merkte, dass er beobachtet wurde und als er hoch schaute, begegnete er Hesters Blick. Für einen kurzen Moment waren ihren Augen nicht kühl, sondern warm und interessiert und….was war das? Philip blinzelte, aber dann sah er, dass er sich wohl getäuscht hatte, denn Hesters Blick war wie immer und glitt desinteressiert über ihn hinweg. Er wusste nicht, was sie gegen ihn hatte. Er hatte sie seines Wissens nie beleidigt; doch dann fiel ihm ein, dass ihm diese entscheidende Kenntnis vielleicht fehlte.  

 Hester – Philip wusste nicht einmal, wann er sich in sie verliebt hatte. Sie war klein und dunkelhaarig, mit einer Stupsnase und braunen Augen. Hester war das Enfant terrible der Familie, aber dennoch war Philip seltsam enttäuscht, gewesen, als er von ihrer Affaire mit einem verheirateten Mann erfahren hatte. Alles andere, ihr Wunsch Schauspielerin zu werden und ihre Versuche sich von ihrer Mutter abzunabeln, hatten ihn erfreut. Es war etwas gleichzeitig Bewundernswertes und Naives in diesen Versuchen gewesen. Hester war lebendig und verstand es selbstständig zu denken. Philip lächelte, als er an das eine Mal zurückdachte, wo er sie auf beim Vorsprechen gesehen hatte. Er hatte durch Zufall davon erfahren und sie wusste bis heute nicht, dass er im Halbdunkel am Eingang gestanden hatte. Sie war einfach grauenhaft gewesen.   

Mary war die schönere Frau von beiden, aber sie hatte in vielem die Lebendigkeit einer Schaufensterpuppe und das war es wohl auch, was er zu spät registriert hatte. Sie hatte keine Phantasie, besaß keine Neugier, am liebsten sollte alles so bleiben wie es war. Ihre eisernen Klauen hatte er erst nach der Hochzeit bemerkt. Vielleicht war der alte Spruch doch wahr und Männer achteten mehr auf Äußerlichkeiten als gut für sie war.  „Ich bin ungerecht,“ schoss es Philip durch den Kopf. „Mary kann nicht aus ihrer Haut.“ Plötzlich fühlte er, wie es ihm einkalt den Rücken hinunterlief. Hier dachte er von Mary als lebendiges Wesen, aber in der Zukunft, die er kannte, war sie tot, hatte ihr Leben verloren um ihn zu retten. „Wie verlogen und überheblich bin ich eigentlich?“ Philip war erschrocken über sich selbst. Er stand auf, ging zu Mary hinüber und legte ihr die Hand auf die Schulter. Doch sie war offensichtlich nicht in der Stimmung darauf einzugehen; er spürte sofort, wie sie sich versteifte. Anscheinend hatte sie ihrer Mutter ihr Leid geklagt, denn Rachel Argyle blickte ihn fast feindselig an. ‚Wie kannst du es wagen meiner Tochter solche Dinge zu sagen’, sagte ihr Blick mehr als deutlich.  

 Abrupt drehte Philip sich um; er hatte es nicht nötig zu Kreuze zu kriechen. Er würde versuchen müssen den Mord an Rachel Argyle und damit alles was damit zusammenhing zu verhindern, aber ob er seine Ehe retten konnte, bezweifelte er inzwischen. Er hätte Mary nie heiraten dürfen, aber der Fehler lag mit bei ihm und er würde Mary nicht alleine dafür verantwortlich machen. Kurz hatte ihn der Gedanke an Scheidung durchzuckt, aber er hatte ihn wieder verworfen. Was wäre damit gewonnen? Die Frau, in die er sich wirklich verliebt hatte, zeigte ihm deutlich, dass sie ihn ablehnte. Er setzte sich wieder hin und griff aus Gewohnheit nach seinem Glas, das er jedoch plötzlich so heftig absetzte, dass die Eiswürfel klirrten; Mary blickte ihn irritiert an, schaute aber dann wieder weg.  

Was war mit Philip los? Da war mehr als nur die Unstimmigkeit mit Mary; dessen war sich Hester sicher. Er wirkte besorgt und in sich gekehrt. Philip war nie ein Mann gewesen, der viel geredet hatte, aber irgendetwas war anders. Wie er sich mit der Hand über die Stirn fuhr, wie er gerade sein Glas abgestellt hatte….Seltsam…Sie sollte besser ihre Distanz halten, aber irgendwie brachte sie es diesmal nicht fertig. Er wirkte fast ein bisschen verunsichert.  

~~~ 

Es war, als ob das Wetter die Stimmung zwischen Philip und Mary ausdrücken wollte; es regnete. Marys Lippen waren leicht zusammengepresst und ihre Stimme etwas kühler als sonst, für jemanden, der sie nicht kannte, kaum zu bemerken. Philip sagte nichts, sondern schaute ihr nur lange in die Augen, aber er konnte ihr kein Lächeln entlocken. Philip konnte sich denken, was in ihr vorging. Mit seiner Bemerkung über ihre Enttäuschung hatte er einen Nerv getroffen. Sie war unzufrieden gewesen, aber sie hatte sich bisher damit getröstet ihren Mann ansonsten in die von ihr gewünschte Richtung lenken zu können. Ihre Mutter, die immer der Meinung gewesen war, dass Philip nicht gut genug für Mary sei, würde sie in allem unterstützen, auch in einer Scheidung. Hatte Philip aus einem anderen Grund darüber nachgedacht, so wurde ihm bewusst, dass vielleicht Mary den Weg aus dieser Ehe suchen würde. Andererseits war ihr die öffentliche Meinung immer sehr wichtig gewesen und was würden die anderen denken, wenn sie sich ohne guten Grund scheiden ließe?  Ein weiterer Gedanke durchzuckte ihn. Wenn er sich scheiden ließe, dann wäre er in der verhängnisvollen Nacht nicht im Haus gewesen, dann hätte Kirsten nicht versucht ihn zu ermorden und Mary würde noch leben. Vielleicht wäre es tatsächlich besser so, aber er musste zuerst einen Weg finden den Mord an Rachel Argyle zu verhindern und das konnte er nur, wenn er nach wie vor ungehindert Zugang zu ihrem Elternhaus hatte.  

Philip hielt die Times in der Hand ohne den Artikel überhaupt gelesen zu haben und legte sie jetzt achtlos beiseite. „Gibt es eigentlich irgend etwas Neues von deinem Bruder Jacko?“ fragte er nach einer Weile beiläufig.

Mary schaut ihn zuerst an, als wisse sie nicht, von wem er überhaupt rede. „Jacko?“ sagte sie dann geistesabwesend. „Nein, warum?“  

„Ich habe gehört, er hätte mal wieder ziemlich hohe Wettschulden und die Buchmacher wollten ihm an den Kragen.“  

„Das kann schon sein,“ erwiderte Mary, „Aber ich habe schon lange aufgehört mich für das zu interessieren, was Jacko tut. Er wird sich wohl nie ändern und irgendwann wird auch Mutter einsehen, dass es wie ein Fass ohne Boden ist, wenn sie ihm Geld gibt.“  Sie begann das Frühstücksgeschirr wegzuräumen und schien plötzlich etwas entspannter, vielleicht, weil sie nicht weiter über Philip und ihre Beziehung zu ihm nachzudenken brauchte.  „Wie kommst du überhaupt darauf? Du hast dich doch sonst auch nicht um Jacko gekümmert?“  Philip war sich bewusst, dass es schwierig würde einen guten Grund zu finden, den er Mary nennen konnte. Plötzliche Sorge um Marys Mutter würde selbst sie etwas wundern.   

„Ich weiß nicht, ob es dein Vater war, der es mir sagte aber ich glaube, dass Jacko inzwischen an den Fonds selbst möchte, weil er mit den Zinsen, die ihr alle bekommt, nicht auskommt. Das berührt euch alle. Auf jeden Fall solltet ihr alle aufpassen; eure Mutter war schon immer zu nachgiebig, was Jacko betrifft.“  Philip wusste selbst, dass dies recht fadenscheinig klang, aber dies fiel Mary zum Glück nicht auf.  Sie nickte und verließ dann das Esszimmer. Philip griff wieder nach seiner Zeitung und begann den Leitartikel zu lesen, der plötzlich vor seinen Augen verschwamm.  Er blinzelte und schaute auf das Gedicht von Morgenstern und den kleinen Band, den er in den Händen hielt.  

Palmströms Uhr ist andrer Art,
reagiert mimosisch zart.

Wer sie bittet, wird empfangen.
Oft schon ist sie so gegangen,

wie man herzlich sie gebeten,
ist zurück- und vorgetreten,

eine Stunde, zwei, drei Stunden,
je nachdem sie mitempfunden.

Selbst als Uhr, mit ihren Zeiten,
will sie nicht Prinzipien reiten:

Zwar ein Werk, wie allerwärts,
doch zugleich ein Werk - mit Herz.

 

 

Kapitel 4 by Marianne

Palmströms Uhr, ein Gedicht über die Zeit….Es bestätigte eigentlich nur, was Philip längst akzeptiert hatte, dass er in die Vergangenheit gereist war und sich Dinge verändert hatten.. etwas, was er bis vor ein paar Tagen ins Reich er Phantasie verwiesen hätte. Dennoch war einiges in sich nicht schlüssig: Er hatte nicht ‚herzlich gebeten’ und es waren auch mehr als nur ein oder zwei Stunden gewesen, aber vielleicht war dies auch anders gemeint. Dann lächelte er, er glaubte an Zeireisen und erwartete Logik…. Philip spürte eine Lebendigkeit in sich, die er seit seinen Tagen als Pilot nicht mehr gefühlt hatte. Wenn er Dinge ändern konnte, dann konnte er vielleicht auch die Ansteckung mit Polio vermeiden, dann würde er vielleicht wieder laufen können…. Aber dann wurde ihm ernüchtert klar, dass er keinen Einfluss darauf hatte, wohin in die Vergangenheit er reiste. Ein Menschheitstraum, genau zu wissen, was passieren würde… Was hätte ich getan, wenn… Philip wusste jetzt, dass dies einem Albtraum glich. Etwas zu wissen und es nicht verhindern zu können, es niemandem sagen zu können, das war schlimmer als Nichtwissen. Wodurch wurden diese Reisen ausgelöst und wodurch die Rückkehr? Teilweise durch die Berührung des Buches, aber wieso war er beim Lesen der Tageszeitung wieder zurückgekehrt?  

Die Klingel unterbrach seine Gedanken. Er legte den Band weg und rollte zur Eingangstür, die er, noch ganz in Gedanken, einfach aufmachte ohne zu fragen, wer da sei. „Philip!“ ein hoch gewachsener Mann mit einem schelmischen Lächeln schaute ihn an: Matt! - Er hatte sich kaum verändert. Seine blonden Haare widerstanden wie schon früher jedem Versuch sie mit einer Bürste in eine bestimmte Richtung zu zwingen und sein Versuch sich einen Bart wachsen zu lassen, war anscheinend erfolglos geblieben, ein Dreitagebart, für den er vermutlich zwei Wochen gebraucht hatte. „Philip!“ wiederholte Matt. „Ich musste gleich kommen, als ich deinen Brief bekam, bevor du es dir wieder anders überlegst. – Darf ich reinkommen?“ Philip gab die Tür frei. Er freute sich, dass Matt gekommen war, auch wenn dessen Eintreten ihm schmerzlich bewusst machte, wie es war nicht mehr auf gleicher Augenhöhe mit seinem besten Freund zu sein. Matt legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich bin froh, dass du geschrieben hast. – So, und jetzt könnte ich eine Stärkung vertragen. Ist dein Tee noch immer so schlecht wie früher? Wenn ja, ziehe ich es vor, mir selbst einen zu machen; ich bin mittlerweile recht gut darin.“ Philip rollte in die Küche und Matt schlenderte hinterher. Er machte auch keine Anstalten Philip die Büchse mit dem Tee abzunehmen oder die Tassen aus dem Schrank zu holen wie dies manch andere taten, die anscheinend nicht verstanden, dass er zwar seine Fähigkeiten zu laufen verloren hatte, dass aber alles andere einschließlich seines Gehirns noch recht gut funktionierte. 

~~~ 

„Du hättest mich doch den Tee machen lassen sollen.“ Matt verzog nach einem Schluck sein Gesicht. „ Er ist eindeutig noch genauso schlecht wie früher.“ Dann räusperte er sich. „Was hat dich zum Umdenken gebracht?“  Philip lächelte. Auch hierin war Matt noch wie früher, kein vorsichtiges Herantasten an ein Thema, sondern sofortiger Angriff. Sie waren so unterschiedlich, wie man sich zwei Menschen vorstellen konnte und dennoch hatte es nie jemanden gegeben, dem er so vollkommen vertraute wie Matt. Aber was würde Matt denken, wenn er ihm von den Zeitreisen erzählte? Vermutlich würde auch er ihn für verrückt halten oder zumindest für gestört und gefährdet. Er konnte ihm nichts sagen, zumal er einige Dinge seblst nicht wusste. Reiste er tatsächlich mit seinem Körper in die Vergangenheit oder war es nur sein Geist, der die Verbindung herstellte? Und wenn er in den nächsten Tagen wieder in die Vergangenheit reiste, was wäre dann nach seiner Wiederkehr, wäre Matt dann überhaupt noch hier? Natürlich hatte er sich über so etwas vorher keine Gedanken gemacht. Zeitreisen waren nicht möglich und in Büchern erwartete man nicht unbedingt Logik hinter jedem einzelnen Geschehnis. Was geschieht, wenn man in die Vergangenheit reist und seinen Großvater ermordet – das große Paradoxon….Aber es war etwas anderes, wenn man es selbst erlebte. 

„Mensch Philip, ich erwarte jetzt keine Geständnisse von dir;  aber wenn du so lange überlegen musst, warum du mir geschrieben hast…“ 

Philip blinzelte und grinste seinen Freund dann an. „Matt, ich kann nur sagen, dass ich sehr froh, dass ich es getan habe, und ich hätte es schon früher tun sollen. Wie lange kannst du bleiben?“ 

„Vorerst nur zwei Tage, aber….es muss ja nicht das letzte Mal sein. Ich soll dich übrigens von Celia grüßen und vielleicht wäre es Zeit, dass du deinen Patensohn mal wieder siehst. Hattest du heute was Spezielles vor?“  

„Matt, ich habe schon eine ganze Weile nichts Spezielles mehr vor,“ erwiderte Philip und seine alte Bitterkeit kam wieder ans Tageslicht.. „Vielleicht …. Ich habe einen Brief von einem ehemaligen Kollegen in Oxford bekommen. Sie würden sich freuen, wenn ich wiederkäme.  Aber außer dem Beruf und meinen Büchern wird mir nicht viel bleiben. Viel Auswahl an Gesellschaft hab ich nicht und ich kann es drehen und wenden wir ich will“ – Er sah Matt voll ins Gesicht –

„Einige Dinge sind unwiederbringlich vorbei..“ 

„Ich will dich nicht einfach aufmuntern und dir sagen, es würde alles wieder gut. Was ist mit Marys Familie? Hast du denn keinen Kontakt zu ihnen?“ fragte Matt stirnrunzelnd. 

„Ich kann nicht  sagen, dass ich ein herzliches Verhältnis zu ihnen hatte außer zu Leo und selbst er… Sie machen mich dafür verantwortlich, dass Mary tot ist; wäre ich nicht so neugierig gewesen…Und auch wenn sie es nicht täten….Wenn Mary nicht gestorben wäre, hätte ich mich scheiden lassen….“ 

Einige Sekunden verstrichen und man sah Matt an, dass er dies erst einmal verdauen musste.

 „Ich hätte sie nie heiraten sollen, Matt. Vielleicht hätte ich drauf kommen sollen, als du mir damals von Celia erzählt hast. Es war so anders zwischen euch.“ 

Matt holte umständlich eine Zigarette aus seinem Etui. „Du hast dich verändert, Philip,“ sagte er schließlich. „Damals hatte ich den Eindruck, du weißt überhaupt nicht, wovon ich rede und ich….jetzt kann ich es dir ja sagen…ich glaubte schon damals nicht, dass Mary Argyle die richtige Frau für dich war. Hat deine Krankheit dich einsichtig gemacht oder was ist passiert?“ 

„Spricht jetzt der Freund oder der Staatsanwalt?,“ erwiderte Philip leichthin und rollte zum Schrank, in dem sich Gläser und Flaschen befanden. „Komm, lass uns erst einmal anstoßen.“ Matt verstand, dass Philip nichts weiter über das Thema sagen wollte und nippte gehorsam an dem Madeira, den Philip ihm einschenkte. 

~~~ 

Es war schön gewesen in alten Zeiten zu schwelgen und Matt hatte es verstanden bestimmte Momente mit seinen Witzen aufzulockern und nicht zuzulassen, dass Philip in Selbstmitleid versank. Er konnte seit langer Zeit wieder lachen. Zufrieden legte sich Philip in sein Bett, während Matt es sich im Gästezimmer bequem machte. Philip wusste, dass er Matt wohl nie geschrieben hätte, wenn diese seltsamen Reisen in die Vergangenheit nicht gewesen wären. Selbst wenn sich dies nicht wiederholen sollte, dann hatte er doch gelernt, dass nicht nur die Geschehnisse bestimmten, wie es ihm ging, sondern dass es seine eigene Einstellung war. Wenn er nur von Anfang an gewusst hätte, dass es keine Träume, sondern Realität war. Dann hätte er Mary nie geheiratet….Vielleicht bekam er noch einmal eine Chance. Zögernd griff Philip nach dem Band, der auf seinem Nachttisch lag und öffnete ihn, doch nichts geschah. Es war, wie er schon vermutet hatte. Er hatte keinerlei Einfluss darauf, wann und wohin er reiste. Dennoch kreisten seine Gedanken immer wieder um die Frage „Was wäre gewesen wenn er sofort erkannt hätte, dass es kein Traum, sondern die Vergangenheit war, wenn er nicht Mary geheiratet hätte, sondern versucht hätte Hester zu gewinnen? Was hatte er getan, dass sie ihm so kühl begegnete? Sie war kein kalter Mensch, sondern warmherzig, lustig, freundlich….Und jetzt hatte er erst recht keine Chance mehr. Er war nur noch ein halber Mensch, ein halber Mann, nein, noch nicht einmal mehr das.  Philip schloss die Augen. Vor sich sah er Hester; sie strich ihm sanft über das Gesicht und küsste ihn…... Ihre Finger liebkosten sein Gesicht und dann wanderten ihre Hände tiefer….Oh, ja….oh….ja…. 

Sag mal, hörst du mir eigentlich zu? Ich sagte, ich würde gerne wieder nach Hause zurückfahren,“ sagte Mary leise und nahm einen Schluck Tee. „Dort haben wir mehr Zeit für uns. Ich verstehe auch nicht, warum du plötzlich ständig diese langen Spaziergänge machen willst. Das ist mir zu anstrengend und nur um hinterher von einer Klippe  eine bestimmte Aussicht zu haben… Du hast dich schon sehr verändert, Philip. Du bist wirklich nicht der Mann, den ich…“ Sie verstummte in ihrer Tirade, als sie sah, dass Philip sie verständnislos anschaute.

Das war ein mehr als raues „Erwachen“. Gerade eben hatte er noch die Illusion von Hesters Küssen gefühlt und jetzt… Er blinzelte erneut und ihre Worte drangen diesmal zu ihm vor. Noch vor einiger Zeit hätte Mary dies zwar gedacht, es aber nicht laut geäußert. Es war ein weiterer Beweis, dass die Ehe kaum mehr zu retten war und inzwischen wollte er es auch nicht mehr, selbst wenn er keine Aussicht hatte, Hester jemals zu gewinnen.  Es war nichts Dramatisches, sie stritten sich auch kaum, aber sie hatten einander nichts zu sagen. Nur eins hielt Philip davon ab die Worte zu sprechen, an die Mary inzwischen wohl selbst dachte, sich aber noch nicht traute zu Ende zu denken – Scheidung -   und das war das Wissen um den bevorstehenden Tod Rachel Argyles.  Ein Blick auf die Zeitung zeigte ihm, dass nur einige Tage vergangen waren; sollte ein System  hinter den Zeitabschnitten stecken, die vergingen, wenn er in die Vergangenheit reiste, so war es ihm bisher verborgen geblieben. Er wusste nur, dass er die Zeit schnell nutzen musste. Die anderen hatten ihr Frühstück längst beendet und so waren Mary und Philip die einzigen, die noch im Esszimmer saßen.

Die Tür öffnete sich und Kirsten brachte eine frische Kanne Tee. Kirsten – sie hatte den Mord für Jacko verübt. Und wenn er verhinderte, dass sie ihm half? Es überlief ihn heiß und kalt. Es war keine besonders gute Idee, aber die Zeit lief ihm davon. Kirsten schenkte Tee nach und Philip legte seine Serviette beiseite. „Hatte ich dir eigentlich schon gesagt, dass Jacko anscheinend  geheiratet hat? Ich glaube aber, es ist nicht gerade die Partie, die deine Mutter gutheißen wird.“ Die Teekanne zerschellte klirrend am Boden und Kirsten stand leichenblass und erstarrt daneben.

„Kirsten, was hast du?“ rief Mary erschrocken.

„Ich…mir war schon den ganzen Morgen nicht so gut….Vielleicht….“ 

„Kirsten, du musst dich hinlegen.“ Dankbar sah Kirsten Mary an, die sie umfasste und hinausbegleitete. Philip blieb nachdenklich zurück. Er wusste, Kirsten war kein schlechter Mensch, nur eine unglückliche, innerlich vereinsamte Frau, die nie in ihrem Leben von einem Mann geliebt worden war. Unter den richtigen oder besser gesagt falschen Umständen konnte jeder zum Mörder werden. Doch es gab auch Menschen wie Jacko und diese waren anders. Nur wenige Tage später verließ Kirsten die Argyles. Sie habe schon länger vorgehabt ein eigenes Leben zu beginnen und vielleicht sei jetzt der richtige Zeitpunkt. Als erstes werde sie ihre Schwester in Schweden besuchen und dann entscheiden, was sie weiter tun werde.  Kirsten hatte Tränen in den Augen, als sie ging.

„Es ist ein seltsames Gefühl,“ sagte Mary mit belegter Stimme. „Sie war ein Teil unseres Lebens und ich dachte, sie würde immer da bleiben, auch wenn wir sie natürlich nicht mehr brauchten wie früher, als sie noch unser Kindermädchen war. Ich dachte nie, dass sie etwas vermissen könnte.“

Philip nickte nur. Er konnte nicht zeigen, wie erleichtert er war. Kirsten war nicht zur Mörderin an Rachel Argyle geworden und geworden und auch Mary  würde damit überleben. Mary starrte dem Wagen hinterher, der Kirsten an den Bahnhof brachte. „Philip,“ sagte sie. „Können wir bald nach Hause fahren?“ 

„Wir fahren übermorgen, Mary,“ entgegnete er und fasste sie um die Schulter. Er liebte sie nicht, aber er war froh, dass sie in der Zukunft leben würde. Mary blickte dankbar an ihm hoch und lächelte ihn an, während sie seine Hand ergriff und geistesabwesend streichelte „Ich bin froh, Philip.“ 

~~ 

Der Abschied von Kirsten machte Hester noch bewusster als zuvor, wie eingesperrt sie sich fühlte. Sie war volljährig und niemand würde ihr etwas verbieten, aber sie wusste genau, wie ihre Mutter reagieren würde, wenn sie ihr von den Wünschen und Träumen erzählte, die sie hegte. "Natürlich verstehe ich dich, Kind. Glaube nicht, dass ich nicht ähnliche Träume hatte, als ich in deinem Alter war. Du hast schon Verschiedenes versucht, bist du denn sicher?.... Ich möchte dich nur vor Fehlern bewahren….".Sie würde nie begreifen, dass Hester sich das Recht wünschte ihre eigenen Fehler machen zu können. Rachel Argyle würde den Universitätsbesuch von Hester nicht verhindern, indem sie sich weigerte zu zahlen, aber sie würde Hester weder unterstützen noch beraten. Es war fast ein Fluch die Tochter einer so reichen Familie zu sein; wie wünschte Hester sich manchmal sie wäre ein Mann, dann hätte sie ihre Mutter leichter überzeugen können, dass sie auf die Universität wollte, aber so wurde von ihr erwartet, dass sie Teeparties beiwohnte, etwas ehrenamtliche Arbeit tat und ansonsten wartete, bis der passende Mann auftauchte. Es war, als ob die Frauenbewegung spurlos an der Familie vorbeigegangen wäre und das paradoxerweise, obwohl Rachel Argyle die Zügel fest in der Hand hielt.

Dieses „Nicht arbeiten-müssen“ war für ihre Mutter sehr wichtig. Als Hester während des Krieges im Lazarett geholfen hatte, hatte Rachel Argyle dies akzeptiert; schließlich musste jeder seine Pflicht für das Vaterland tun, aber ein Studium, das später zum Lebensunterhalt dienen sollte, war nichts, was ihre Billigung finden würde Wer sollte ihr helfen?

Ihr Bruder Mickey hatte nur gelacht, als sie angedeutet hatte sie wolle etwas Sinnvolles tun. „Du wirst dein Leben lang genug Geld zum ausgeben haben, Hes, was solls? Hab ein bisschen Spaß und beleg einen Malkurs…Und ausgerechnet Geschichte….“ Er schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. „Tut dich mit Philip zusammen; ihr ergäbt ein prima Team. Ihr müsst nur jemanden finden, der dann ab und zu den Staub von euch abwischt.“ 

Hester wusste selbst nicht, wie sie auf Geschichte gekommen war. Ihr war inzwischen klar, dass ihr versuch Schauspielerin zu werden nur Rebellion gewesen war. Aber Geschichte…sie hatte ihrem Vater immer gerne bei seinen historischen Recherchen und beim Katalogisieren geholfen, wenn Gwenda nicht da war. Dennoch wusste Hester, dass sie auch von ihm keine Unterstützung erwarten konnte. Er hatte zwei Bücher über angelsächsische Geschichte geschrieben; er war lieb, herzlich und nett, aber auf seine Art hoffnungslos altmodisch. Wie sollte sie vorgehen – einfach an die Universität schreiben? Philip – der Gedanke, von Mickey im Scherz dahingesagt….Die Bemerkung ihres Bruders ließ sie nicht mehr los. Sie würde nur etwas Hilfe brauchen und wenn sie dann erst an der Universität wäre, bräuchte sie ihn überhaupt nicht mehr zu sehen. Außerdem hatte sie gehört, dass Philip und Mary übermorgen nach Hause zurückkehren würden.  Er würde nie merken, was sie für ihn empfand; er sah in ihr sowieso nur die kleine Schwester seiner Frau und neben Mary verblasste sie sowieso.

Die leise Stimme, die ihr sagte, es sei besser wie bisher Distanz zu Philip zu wahren, unterdrückte sie.

 

Kapitel 5 by Marianne

Vor einer halben Stunde war Mary mit Mutter zur Schneiderin in die Stadt gefahren und dies war wahrscheinlich die letzte Gelegenheit mit ihm zu reden.  Philip merkte nicht einmal, wie Hester in die Bibliothek kam, so vertieft war er in seine Bücher. So war ihm auch nicht bewusst, wie sie ihn betrachtete, seine eleganten Hände, die einen Füllfederhalter hielten, die Art, wie er geistesabwesend eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Jetzt runzelte er die Stirn. Wie konnte jemand nur so gut aussehen, wenn er die Stirn runzelte? Was Hester recht bald bemerkt hatte war, dass Philip anscheinend noch nicht einmal wusste, wie gut er aussah. ‚Er sieht viel zu gut aus für einen langweiligen Professor,’ hatte Mary einmal gesagt. Wie oberflächlich ihre Schwester doch war. Wie sollte ein Professor aussehen, Bart und Brille? - Hester, wie lange willst du noch da stehen und ihn anstarren? Sie räusperte sich.

„Hallo Philip…..Philip?,“ wiederholte Hester und hätte sich innerlich ohrfeigen können. Wieso verlor sie jegliche Fähigkeit sich auszudrücken, wenn sie Philip begegnete? Sie biss sich verlegen auf die Lippen. „Ich möchte dich etwas fragen und…möchte, dass du mir eine ehrliche Antwort gibst. 

Philip legte seinen Füllfederhalter zur Seite und schaute Hester etwas verwirrt an. Wie lange stand sie schon dort und warum war sie überhaupt gekommen? Sonst schien sie seine Gegenwart eher zu meiden. „Natürlich, Hester, setz dich.“ 

Hester setzte sich und schlug nervös die Beine übereinander. ‚Eine Dame schlägt die Beine nicht übereinander!’ Dieser Spruch ihrer Mutter fiel ihr gerade jetzt im unpassendsten Moment ein und machte sie noch nervöser.

Philip schaute sie erwartungsvoll an. „Womit kann ich dir helfen?“ fragte er etwas förmlich.

 „Du,….du wirst dich wundern, dass ich mich ausgerechnet an dich wende. Wir waren uns nie besonders…nahe. Aber du bist vielleicht objektiv. Ich möchte Geschichte studieren und ich weiß jetzt schon, was Mutter sagen wird, wenn ich…“ Dann überstürzten sich ihre Worte fast und Philip hörte so etwas wie Verzweiflung heraus. „Ich hasse dieses müßige, selbstzufriedene Leben, bei dem sich nie etwas ändert, bei dem ich nur auf den Prinzen warten soll, der nie kommen wird.“ Sie biss sich auf die Lippen. Das war es nicht, was sie hatte sagen wollen. Sie wollte ihn um Unterstützung bitten und ihm zeigen, dass sie es ernst meinte, dass sie keinen neuen Zeitvertreib, sondern etwas Sinnvolles suchte, was ihr Freude machte. „Ich glaube, es war doch keine so gute Idee,“ sagte sie verlegen und machte Anstalten aufzustehn. 

„Bleib, Hester, ich helfe dir gerne, wenn ich kann,“ sagte Philip. „…aber du hast Recht, ich hätte gedacht, ich sei der Letzte, an den du dich wenden würdest. Du hast nie einen Hehl daraus gemacht, dass du mich nicht magst.“ 

„Das ist es nicht, Philip, wirklich nicht. Ich …mag dich…Du wirst mir also helfen?“ Oh Hester, du klingst wie ein eifriges Schulmädchen und nicht wie eine Frau, die auf die Universität möchte. „Mein Interesse an Geschichte besteht nicht erst seit gestern. Es war eigentlich das einzige Fach, das mir wirklich Freude gemacht hat. Du lehrst selbst; traust du mir zu Geschichte zu studieren und wenn ja, welche Universität würdest du mir empfehlen? Vater freut sich zwar, wenn ich ihm beim Katalogisieren helfe, aber in seinen Augen ist eine Frau, die studiert …Na ja, du kennst ihn…“ Hester verstummte; es war alles gesagt.  Hester hatte sich kaum getraut Philip überhaupt anzublicken. Was, wenn er merkte, dass sie ihn nicht nur mochte? Bisher hatte sie jeden Kontakt vermieden, soweit es möglich war und sich damit auf der sicheren Seite gewähnt.  Philip betrachtete sie überrascht und lächelte dann. Trotz ihrer Unsicherheit, die er nicht verstand und die er noch nie an ihr beobachtet hatte, hatte sie etwas Frisches, etwas Lebendiges und das allein wäre schon genug gewesen sie zu unterstützen. Er wusste, sie würde sich mit Begeisterung in etwas stürzen, was ihr wirklich gefiele. Ja, er würde ihr helfen. 

~~~ 

Die großen Koffer waren bereits im Wagen verstaut und Mary packte ihren Schmuck vorsichtig in ihre Schatulle, als ihre Mutter hereinkam und die Schlafzimmertür hinter sich schloss. „Philip ist unten in der Bibliothek und packt noch etwas zusammen….Ich wollte  dir nochmals sagen, dass ich dich unterstütze, wenn du dich doch zur Scheidung entschließen solltest. Philip ist einfach nicht der richtige Mann für dich und noch bist du jung genug...“ 

Mary stand auf und umarmte ihre Mutter. „Danke Mama. Du hast wahrscheinlich Recht, ich hätte ihn nicht heiraten sollen. Er ist so anders als früher. Ich verstehe es einfach nicht…Aber ich will es versuchen. Er muss einfach einlenken. So wichtig sind diese alten Sprachen doch nicht, auch wenn es Oxford ist.“ 

~~~ 

Die Tür zur Bibliothek stand halb offen und Hester sah Philip am Schreibtisch stehen. Dies war die letzte Gelegenheit ihn allein zu sprechen. „Hallo, Philip!“ Wie üblich verließ sie ihr gesamter Witz, wenn sie ihm gegenüberstand. „Ich habe den Brief gestern abgeschickt und ich möchte dir Danke sagen.“ Sie streckte ihm ein kleines Päckchen hin, das er nach kurzem Zögern ergriff. „Willst du es nicht auspacken?“ Ihr Ton zeigt ihm wie wichtig es ihr war; er entfernte das zarte Seidenpapier und schaute auf ein goldenes Zigarettenetui mit seinem Monogramm. Darauf lag eine kleine weiße Karte mit dem Wort Danke, sonst nichts. „Ich habe das Etui gleich gestern besorgt und gewartet, bis sie deine Initialen eingraviert hatten.“ Philip starrte auf das Etui und dann auf Hesters Gesicht. In diesem Augenblick begriff er, dass keine Rede davon sein konnte, dass Hester ihn nicht mochte. All die Ablehnung, die sie ihm gezeigt hatte, hatte einen völlig anderen Grund. Für einen kurzen Augenblick zeigten ihre Augen die ganze Sehnsucht, die sie empfand. Philip griff nach ihrer Hand. „Hester, ich….“ 

Ihr Gesichtsausdruck wurde fast panisch und sie zuckte zurück. „Ich muss gehen, Philip. Leb wohl.“ Philip starrte ihr nach, als sie fluchtartig das Zimmer verließ. Als er Marys Stimme in der Halle hörte, steckte er das Zigarettenetui langsam in seine Tasche. Hester, sie hatte sehr wohl Gefühle für ihn, aber sie war gegangen…Leb wohl… 

~~~ 

Philip musste es Mary zugute halten, dass sie es wirklich versuchte, aber wahrscheinlich war die Ehe nicht mehr zu retten. In Gedanken war er oft bei Hester, auch wenn er sich oft genug sagte, dass es unfair gegenüber Mary sei und Hester zwar ihre Gefühle verraten, ihm aber dennoch zu verstehen gegeben hatte, dass sie ihn nicht wieder sehen wollte.  

Nur eine Woche nach ihrer Heimkehr saß Philip abends in seinem Arbeitszimmer; Mary war übers Wochenende zu ihrer Mutter gefahren und er hatte einen Entschluss gefasst. Er würde mit ihr sprechen; er würde die Scheidung einreichen. Es war, als ob ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre. Er stand auf und ging zur Kredenz, wo er sich ein Glas Whiskey einschenkte. Und nach der Scheidung würde er…. 

„Ein Penny für deine Gedanken, Philip“ sagte da eine Stimme hinter ihm und als er herumfuhr, blickte er das lächelnde Gesicht von Jacko und in die Mündung einer Pistole.

 

„Bevor du mir die übliche Frage stellst, wie ich hier hereingekommen bin, lass dir gesagt sein, dass Schlösser für mich nie ein Problem waren. Was ich jedoch nicht gedacht hätte war, dass du für mich zum Problem werden könntest. Ich weiß auch nicht, was du bezweckst. Vielleicht bist du doch mehr am Vermögen der Alten interessiert als du zugibst….Erst die Begegnung mit dir vor der Tür, dann die Bemerkung zu Kirsten – Ich glaube nicht an Zufälle.“ 

Philip machte Anstalten aufzustehn, aber mit einer kurzen Bewegung bedeutete ihm Jacko, dass er dies besser ließe. „Ich weiß, dass Mary übers Wochenende weg ist; ich habe also Zeit mir deine Erklärungen anzuhören. Nun? Philip schluckte. Was sollte er sagen? Dass er durch eine Zeitreise alles schon wusste? Sehr glaubwürdig! „Tztz, du glaubst, du kommst mit Schweigen weiter? Du weißt, dass du diesen Raum nicht lebend verlassen wirst, aber du hast selbst in der Hand, wie du stirbst, mit einer einfachen Kugel oder….etwas schmerzhafter. Glaub mir, mir fallen da schon noch ein paar Sachen ein.“ 

Schweißperlen hatten sich auf Philips Stirn gebildet. Er wusste, dass dies keine leere Drohung war; er würde hier und heute sterben. Er hatte diese Zeitreise für eine zweite Chance gehalten und hatte versucht die Vergangenheit zu verändern und jetzt… Er starrte vor sich hin. Als Philip damals klar geworden war, dass er nie wieder würde laufen können, hatte er sich oft gewünscht, er hätte seinem Leben rechtzeitig ein Ende machen können, hätte eine Pistole zur Hand gehabt. Mary hatte dies irgendwie geahnt und dafür gesorgt, dass seine Pistole verschwand und er nie allein war. Später, nach ihrem Tod, hatte er wieder daran gedacht, aber irgendwie war es nie dazu gekommen. War doch noch etwas Lebenswille in ihm gewesen? Jetzt sah es fast so aus, als bekäme er seinen damaligen Wunsch erfüllt. Er finge leise an zu lachen. 

„Was soll das?“ zischte Jacko. „Du machst einen Fehler, wenn du meinst mich nicht ernst nehmen zu müssen.“ Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt und er starrte Philip hasserfüllt an.  

Philip blinzelte, als Jackos Stimme zu ihm durchdrang..„Ich nehme dich ernst.  Ich fragte mich nur grade, ob es so etwas wie Schicksal gibt, das vorherbestimmt ist und dem man nicht entrinnen kann.“ 

„Du kannst dir dein philosophisches Gequatsche sparen. Ich weiß, dass du immer auf mich herabgeguckt hast…Der Professor an der Universität von Oxford….Das wird dir jetzt nicht helfen. Also heraus mit der Sprache! Wie ich schon sagte, ich glaube nicht an Zufälle. Was weißt du und wer weiß noch davon? – Nimm deine Hände hoch, steh auf und komm langsam herüber,“ fügte er hinzu, als Philip nicht reagierte.  „Stop! Stehenbleiben!“ sagte Jacko, als Philip noch drei Schritte von ihm entfernt war. "Jetzt werden wir gleich sehen, ob du immer noch so tapfer bist, wenn du siehst, wie ernst ich es meine. Du warst doch Pilot, bist aber nie verwundet worden, oder? Weißt du, was Schmerzen sind, Philip?“ Er lächelte, während die Mündung der Pistole sich langsam nach unten bewegte und auf Philips Bein zielte. „Du brauchst dir keinerlei Illusionen machen, Philip. In Kriminalromanen versucht der Bösewicht immer etwas Dummes und der Held kann ihn dann überwältigen. Aber wir befinden uns in der Realität. Also, los, das ist deine letzte Chance auf eine saubere Kugel.“  

Philip schluckte. „Ich ahnte, dass du Geld brauchen würdest. Wir haben den gleichen Buchmacher.“ Jacko lachte glucksend. „Sieh da, sieh da, der seriöse Herr Professor, auch nicht besser als unsereiner. Ich hatte also doch Recht, du bist auch hinter dem Geld der Alten her.“ Er überlegte und nach einer Pause fragte er, „Und wie heißt mein Buchmacher?“ 

Philip wusste, dass er verloren hatte. Es war ein verzweifelter Versuch gewesen eine plausible Erklärung zu liefern und Jacko hatte ihn durchschaut. „Du meinst, du kannst mich auf den Arm nehmen - der dumme Jacko, der das Spiel nicht durchschaut?"  Jackos Gesicht verzerrte sich und dann drückte er ab. 

Ein fürchterlicher Schmerz durchzuckte Philip und er schrie auf, als die Kugel seinen Oberschenkel traf. Stöhnend fiel er zu Boden; ein dunkler Blutfleck breitete sich auf seiner Hose aus und er presste seine Hand darauf.

„Kein Grund, so zu schreien, Philip,“ sagte Jacko höhnisch lächelnd. „Ich kann gut schießen, weißt du? Das ist nur eine Fleischwunde.“ Er griff eine Decke, die auf einem Tischchen lag und warf sie Philip zu. „Wir wollen doch nicht, dass du vorzeitig abkratzt. Hier, binde die Wunde ab.“ Mit zitternden Händen nahm Philip das Stück Stoff und band es um sein Bein. „Nächste Chance, Philip. Wer weiß noch davon?“ Er hob die Pistole. 

„Niemand, niemand weiß davon,“ stöhnte Philip. „Ich weiß, dass du immer in Geldnot bist und mir war klar, warum du kamst. Das mit deiner Frau war Zufall; ich habe gehört, …aaah….wie sie sich im Kino mit einer Kollegin…. „Das könnte wahr sein; sie war schon immer etwas redselig.“

Jacko lächelt unangenehm. „Aber du wirst verstehen, dass ich sichergehen will.“ Sein Finger krümmte sich und er drückte erneut ab. Philip schrie gellend, als der Schuss seine Kniescheibe zerschmetterte.  „Nun, Philip? Du siehst, dass du es dir sparen kannst irgendwelche Spielchen zu treiben. Ich wiederhole, wer weiß davon?"

„Niemand,“ keuchte Philip. Der Schmerz breitete sich in seinem ganzen Körper aus und er konnte nicht mehr klar denken.  „Guter Junge,“ sagte Jacko. „Ich glaube, du sagst die Wahrheit und ich habe noch andere Dinge zu tun. Es wird Zeit, dass wir die Sache beenden.“ Wie durch einen Schleier sah Philip auf Jackos höhnisches Gesicht. Er sah das Mündungsfeuer, fühlte einen stechenden Schmerz in der Brust und dann nichts mehr. 

Jacko sah auf die regungslose, verrenkte Gestalt am Boden und die Stelle auf Philips Brust, wo das Blut den Pullover dunkel färbte. Dann schaute er sich im Zimmer um; er hatte genug Erfahrung es wie einen Einbruch aussehen zu lassen. Nur wenige Minuten später verließ er das Haus.   

Kapitel 6 by Marianne

Ein Glücksgefühl durchströmte Hester, als sie den Brief zum dritten Mal las. Sie war akzeptiert worden und würde zum nächsten Semester ihr Studium aufnehmen. Morgen würde sie den Brief Mutter zeigen und obwohl sie bereits wusste, dass dann eine ziemliche Diskussion auf sie zukam, tat dies ihrer Laune keinen Abbruch. Es war Zeit, dass sie sich löste und vielleicht war das morgige Gespräch der erste Test für sie. Mutter würde gut gelaunt wiederkommen, denn sie war mit Mary bei der Schneiderin – wenigstens eine Tochter, die sich so entwickelt hatte, wie sich Rachel Argyle dies vorgestellt hatte. Hester hatte Marys Gespräch mit Mutter teilweise mit angehört. Die Ehe zwischen Philip und ihr schien immer schlechter zu werden. Philip – sie hatte ihn seit einer Woche nicht gesehen. Er hatte genau gesehen, was mit ihr los war; sie hatte gemerkt, wie überrascht, fast verwirrt er war. Er hatte auch nicht abgestoßen gewirkt, sondern fast….Aber das war vielleicht Wunschdenken….

Trotzdem sollte sie Philip eigentlich danken. Er war der einzige, mit dem sie ihre Freude teilen konnte. Keiner aus der Familie würde verstehen, was die Zusage für sie bedeutete. Sie würde zu ihm fahren, nicht lange, und es würde sowieso das letzte Mal für lange Zeit sein, dass Sie ihn sah…Hester, warum lügst du dich selbst an? Du willst dich nicht nur bedanken; du hegst die unverschämte Hoffnung, dass er deine Gefühle vielleicht doch irgendwie erwidert. 

Eine Stunde später lenkte sie ihr Auto die kleine Straße hinauf, die zu Philips Haus führte. Es lag recht einsam, aber der Blick entschädigte für vieles. Mittlerweile kamen Hester Zweifel, ob ihre Entscheidung richtig war, aber sie war jetzt fast da und würde ihren Besuch wirklich ganz kurz halten, zumal es schon anfing dunkel zu werden. Philip schien Besuch gehabt zu haben, denn auf der Straße kam ihr ein Wagen entgegen. Von unten hatte sie bereits gesehen, dass in der Bibliothek Licht brannte. Er würde wieder arbeiten; Mary hatte sich oft genug darüber beschwert. Hester stellte ihren Wagen ab und klingelte. Jetzt sollte eigentlich das Licht im Treppenhaus angehen, aber….nichts. Hester klingelt nochmals, doch Philip öffnete nicht. Die Bibliothek hatte eine Tür zum Garten; sie würde einfach hinten ums Haus gehen.Durch die Scheiben schaute Hester in die erleuchtete Bibliothek und erstarrte: Auf dem Boden neben dem Schreibtisch lag die regungslose Gestalt von Philip. Hesters Herz schlug bis zum Hals…Das Auto vorhin und Philip, ob er überhaupt noch….Sie wagte nicht weiterzudenken. Neben der Terrassentür stand ein Blumentopf auf dem Boden, den Hester ergriff und mit voller Wucht gegen das Glas schmiss, das in tausend Scherben zersplitterte. Hester schnitt sich die Hand, als sie nach innen griff und die Tür entriegelte, aber in diesem Augenblick spürte sie nichts. Sie sah nur Philip, der regungslos auf dem Boden lag. Seine Brust und sein rechtes Bein waren dunkel von Blut. Hester kniete nieder und nahm Philips Hand…Sie war warm und…da, ganz schwach, war ein Puls zu fühlen – er lebte noch. Furcht krampfte ihr Herz zusammen; ja, er lebte, aber wie lange noch?

Hester sprang auf und stürzte zum Telefon. „Einen Krankenwagen, bitte schicken sie schnell einen Krankenwagen zu Philip Durrant in die Leicester Road 36. Er ist angeschossen worden; er lebt noch, aber…bitte beeilen Sie sich!“ Hester beantwortete noch ein paar Fragen und legte dann auf. Sie musste versuchen die Blutung zu stillen. Im Krieg war sie, wie so viele andere junge Frauen auch, Krankenschwester gewesen.  Sie knöpfte Philips Strickjacke auf und dann sah sie, warum er noch lebte. In der Brusttasche seines Hemdes steckte das Zigarettenetui, das sie ihm geschenkt hatte; es hatte die Kugel etwas abgelenkt, die unterhalb des Schlüsselbeins in der Nähe seiner Lunge eingedrungen war. Dies war zwar keine tödliche Wunde, aber diese und die Wunden am Bein - Philip würde verbluten, wenn nicht bald Hilfe kam. Hester war immer eine Träumerin gewesen und im Nachhinein wusste sie nicht, woher sie die Kraft genommen hatte so schnell zu handeln. Aus dem Schlafzimmer holte sie ein weißes Leinentuch, das sie in Streifen riss. Auf dem Schreibtisch lag ein Brieföffner, mit dem sie sein Hosenbein aufschlitzte.

Merkwürdigerweise war ein Tuch um seinen Oberschenkel gebunden, als ob er versucht hätte die Wunde abzubinden. Hester erbleichte, als sie Philips Knie sah. Sie hatte genügend Verwundete gesehen um zu wissen, dass Philips Bein, wenn er überlebte, wohl steif bleiben würde. Wo blieb der Arzt? Hester hatte Philip so weit wie möglich verbunden, aber wieso war er so lange bewusstlos? Zwei der Kugeln steckten im Bein und eine unterhalb der Schulter. War es Schock? Sie kniete neben ihm auf dem Fußboden und hielt seine Hand. „Du darfst nicht sterben, Philip,“ flüsterte sie. „Du darfst nicht sterben.“ Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Plötzlich sah sie, wie Philips Lider leicht flatterten und seine Augen sich kurz öffneten und sie ansahen. Er stöhnte leise, dann schlossen sich seine Augen wieder. Hester stockte der Atem. War Philip….? Ihre Hand fuhr unwillkürlich zum Mund, als sie versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken, doch dann fühlte sie erneut seinen Puls. Er lebte  - noch. Hester streichelte Philips Hand und sprach mit ihm, flehte ihn an nicht aufzugeben. Wahrscheinlich hörte er es überhaupt nicht. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, näherten sich Wagengeräusche. Endlich!

„Sie haben gute Arbeit geleistet, Mrs Durrant,“ meinte der Arzt anerkennend, während Philip abtransportiert wurde. „Wenn er überlebt, hat er es Ihnen zu verdanken.“ Sein Gesicht war ernst. „Ich weiß nicht, warum er immer noch bewusstlos ist.“ Hester blinzelte durch ihre Tränen hindurch. „Ich… ich bin nicht Mrs. Durrant; ich bin seine Schwägerin. Meine Schwester ist mit meiner Mutter…Vielleicht sind sie schon wieder aus der Stadt zurück… Wir müssen sie benachrichtigen.“ 

Der Arzt überlegte und nickte dann sinnend. „Fahren Sie mit ins Krankenhaus, dann ist wenigstens ein Verwandter da, falls….Nun ja, er hat viel Blut verloren.“ Als er sah, dass Hester kreidebleich wurde, fügte er hinzu. „Verlieren Sie nicht den Mut, Kindchen. Vom Krankenhaus aus werden wir Ihre Schwester anrufen.“ 

Hester fuhr hinter dem Krankenwagen her, nachdem sie den Polizisten ihre Personalien gegeben hatte. Wenn der Tatort untersucht war, würde einer der Beamten ins Krankenhaus kommen, wo Hester ihre Aussage machen konnte.  

Es war fast zwei Stunden später, als Mary und ihre Eltern im Krankenhaus eintrafen. Philip war immer noch bewusstlos und Mary brach weinend neben seinem Bett zusammen. Während Rachel Argyle ihre Tochter in den Arm nahm und zu trösten versuchte, ging Hester leise aus dem Zimmer. Sie konnte nicht mehr hier bleiben, sonst würde sie sich verraten.

 

Philip würde leben; das war kurze Zeit später klar, auch wenn er merkwürdigerweise immer noch nicht erwacht war. Der Blutverlust war nicht so groß gewesen wie ursprünglich gedacht. Wie solche Dinge die Familie zusammenschweißen, dachte Hester, als sogar Jacko sich nach Philips Befinden erkundigte. Er hatte nie näheren Kontakt zu seinem Schwager gehabt, aber er war offensichtlich genauso erschrocken gewesen, als sie ihm erzählt hatte, was passiert war, denn er war kreidebleich geworden.

„Ich danke dir, Jacko,“ sagte sie. „Der Arzt sagte, es besteht keine Lebensgefahr mehr, sondern es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er zu sich kommt.“ 

Zwei Tage später jedoch geschah etwas, was die Welt der Argyles für immer veränderte. Jacko brach nachts in sein Elternhaus ein und öffnete den Tresor. Rachel Argyle hatte schon immer einen leichten Schlaf gehabt; sie überraschte ihn. Sie hatte schon lange gewusst, dass Jacko nur auf ihr Geld spekulierte, aber damit hat sie nicht gerechnet, damit hatte keiner gerechnet… Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als er den Schürhaken ergriff und sie konnte nur noch einen erstickten Schrei ausstoßen, bevor das Eisen ihre Schädeldecke zertrümmerte. Dieser Laut, der die nächtliche Stille durchbrach, reichte, um Leo und Micky zu wecken, doch sie kamen zu spät. Sie sahen Jacko mit dem Geld  flüchten, aber sie konnten nichts mehr tun. Rachel Argyle war tot.  

Jetzt erschien auch der Überfall auf Philip in einem anderen Licht, doch derjenige, der vielleicht hätte erzählen können, was passiert war, war dazu nicht in der Lage, auch zwei Wochen nach den Schüssen nicht. Es gab keinen Grund dafür. Die Wunde in seiner Brust war zwar schwer gewesen und hatte seine Lunge gestreift, auch hatte er viel Blut verloren, aber die Ärzte hatten keinerlei Erklärung, warum er immer noch im Koma lag.

 

 Der Tod ihrer Mutter hatte Mary vollends aus der Bahn geworfen. Mary  hatte sie nicht richtig geliebt, das hatte keines der Kinder, aber sie war ein stabiler Faktor in ihrem Leben gewesen und Mary wusste, dass ihre Adoptivmutter sehr zufrieden mit ihr war: sie war ein Spiegelbild dessen geworden, was Rachel gewünscht hatte. Während der Beerdigung war Mary wie betäubt gewesen, doch während die übrige Familie all die unvermeidlichen Dinge erledigte, die nach einem Todesfall folgten, musste Mary an das Bett ihres Mannes zurückkehren. Sie hasste jede Sekunde. Mutter hat recht gehabt, ging es Mary durch den Kopf, während sie auf ihren Mann blickte. Ich hätte ihn nie heiraten sollen. Sie schaute ihn an wie einen Fremden und war froh, dass Hester auch ab und zu kam. Sie ertrug es kaum allein im Krankenzimmer und schauderte beim Anblick von Philip, der reglos dalag.

Mit Tränen in den Augen wandte sie sich an ihre Schwester. „Ach Hester, womit habe ich das nur verdient? Ich weiß nicht, wie ich es ertragen soll und selbst, wenn er wieder aufwacht, weißt du, dass der Arzt gesagt hat, dass sein Bein steif bleiben wird? Es war schon schlimm genug für mich, dass er diesen langweiligen Beruf ausgesucht hat, aber wenn ich daran denke, dass ich an einen Krüppel …“ Mary verstummte, als sie Hesters Blick sah.

Du kannst es nicht ertragen; es ist schlimm für dich? Hast du schon einmal einen Augenblick daran gedacht, wie es für deinen Mann ist, der deine ganze Unterstützung bräuchte?“ 

„Du brauchst gar nicht so heilig zu tun,“ schnappte Mary. „Nach mir fragt ja keiner.“ Sie griff sich an die Schläfe. “Ich habe Kopfweh und gehe jetzt nach Hause. Ob ich hier bin oder nicht, spielt sowieso keine Rolle. Morgen komme ich wieder.“ Abrupt drehte sie sich um und verließ den Raum.

Noch nicht einmal nach Philip hatte sie sich umgeschaut, geschweige denn sich verabschiedet. Natürlich konnte er sie nicht hören, aber konnte Mary wirklich nur an sich denken in diesem Moment? Egal ob er es hören konnte oder nicht, wenn sie ihn wirklich liebte… Hester blieb allein im Krankenzimmer zurück. Das Ticken der Wanduhr war der einzige Laut, der zu vernehmen war. Zwei Wochen waren es jetzt seit diesem verhängnisvollen Abend. Die Wunde in Philips Brust verheilte gut, wie der Arzt versichert hatte und es gab keinen Grund, warum er nicht zu sich kommen sollte. Bekam er irgendetwas von dem mit, was rings um ihn vorging? Und wenn ja, wäre das nicht das Schlimmste, was man sich vorstellen könnte?

Hester zog den Stuhl näher zum Bett und setzte sich. Sie wusste selbst nicht warum aber auf dem Weg zum Krankenhaus war sie an einer kleinen Antiquariats-Buchhandlung vorbeigekommen, die sie irgendwie magisch angezogen hatte. Ihre Wahl war auf einen kleinen Band mit Gedichten gefallen, viele davon von Shakespeare. Jetzt holte sie das Büchlein aus ihrer Handtasche; vielleicht sollte sie ihm einfach etwas vorlesen. Willkürlich schlug sie das Buch auf und fing an zu lesen. Nicht mit den Augen lieb ich dich.Die sehn genau, dass du voll Fehler bist;Es ist mein Herz, das liebt, was sie verschmähn.Und dir, trotz Augenschein, verfallen ist.Mein Ohr entzückt nicht deine Stimme, nein.Nicht geil Betasten will mein Tastsinn sein, noch wolln Geruch, Geschmack gebeten sein…. Hester stockte und hätte fast laut losgelacht. Shakespeare – sie liebte Shakespeare, aber hätte sie irgendein Gedicht wählen können, das  weniger gepasst hätte? Sie liebte ihn mit ihren Augen und seine Stimme…..Es war kaum zu glauben, was seine Stimme immer bei ihr ausgelöst hatte. Sie fühlte all die feinen Härchen auf ihrem Arm, wenn er etwas sagte, dieser tiefe ausdrucksvolle Bariton, der sie in den Bann zog. Und selbst jetzt, wo er blass und reglos unter den Laken lag, verspürte sie den Wunsch ihn zu berühren. „Ich liebe dich, Philip. Alles in mir wird lebendig, wenn ich dich sehe…Und ich bin dir verfallen, ich will tasten, ich will schmecken, ich will alles…,.“ sagte sie leise. Da sah sie, wie sich seine Hand leicht bewegte.  

~~~ 

„Wie lange willst du denn noch schlafen?“ Matts Stimme und ein lautes Pochen rissen Philip aus seinem Schlaf. „Ich habe Tee gemacht, und den kann man tatsächlich trinken.“ Langsam öffnete er die Augen.   

 

Kapitel 7 by Marianne

Er blinzelte und brauchte eine Weile, bis er sich zurechtfand. Sein Kopf war schwer wie Blei und alles tat weh. Seine letzte Erinnerung war, dass Jacko ihn in die Brust geschossen hatte, doch wie hatte Jacko aus dieser Entfernung verfehlen können? Er erinnerte sich an das Mündungsfeuer, an den stechenden Schmerz in seiner Brust …Doch was er jetzt fühlte, waren vor allen Dingen sein rechtes Bein…sein Bein? Es schmerzte!  Philip schluckte…seine Beine. Er bewegte seine Zehen….Tränen schossen ihm in die Augen und er versuchte nicht sie zu unterdrücken. Dann schlug er die Bettdecke zur Seite und setzte sich auf. Seine Beine, die zwei Jahre Fremdkörper gewesen waren, ließen sich bewegen und er setzte sie vorsichtig auf den Boden. Sein rechtes Bein war recht steif und tat wh, wenn er es belastete, aber wie unbedeutend war dies jetzt! Er würde wieder laufen können...

 „Philip, lebst du noch?“ dröhnte es da von draußen.

„Ja…ja, alles in Ordnung,“ erwiderte Philip mit heiserer Stimme. Erst jetzt sah er sich im Zimmer um und erstarrte. Er hatte vorher gar nicht auf seine Umgebung  geachtet. Dies war nicht das Schlafzimmer, das er kannte - keine glänzenden Mahagonimöbel, sondern altes Nussbaum, eine alte Kommode mit Schubladen und ein großer Schrank mit Intarsien. Am Kopfteil des Bettes lehnte ein Gehstock. Ein gewebter Teppich lag auf den Holzdielen, auf dem Nachttisch lag ein Stapel Bücher und an den Wänden hingen ein paar alte Fotos von seinen Eltern; das war alles. Keine aufwendigen Dekorationen, keine wertvollen Vorhangstoffe. Das Schlafzimmer hatte eine zweite Tür, die vermutlich in ein Badezimmer führte. Von draußen hörte er das Geklapper von Geschirr, Matt, der wohl in der Küche hantierte – oder vielleicht noch jemand anders? „Ich bin gleich da,“ rief Philip nach draußen, griff nach dem Gehstock und stand auf. Das Laufen war nicht flüssig, aber leichter, als er gedacht hatte. Die Tür an der gegenüberliegenden Wand führte, wie er vermutet hatte, in ein kleines Bad. Mit zitternden Händen knöpfte er seine Pyjamajacke auf und zog sie aus. Der Spiegel warf ihm sein Bild entgegen. Auf seiner Brust war eine noch nicht völlig verheilte Narbe zu sehen. Er würde sich kurz waschen und seine Zähne putzen und dann nach draußen zu Matt gehen. Vor allen Dingen musste er herausfinden, was passiert war. Zehn Minuten später verließ er sein Schlafzimmer und lief durch den kleinen, gemütlich wirkenden Flur den Geräuschen in der Küche entgegen. Ein alter Spiegel hing über einer Nussbaumkommode, ein kleiner Teppich bedeckte die Fliesen und an der Garderobe hingen mehrere Jacken, Männerjacken. Daneben standen mehrere Paar Schuhe.  ´

“Soweit, dass ich dir deinen Tee ans Bett bringe, sind wir nicht,“ .grinste Matt. „Wenn du das willst, sorgst du am besten dafür, dass wieder eine Frau ins Haus kommt.“ Philip grinste zurück, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte keine Ahnung, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte, nur schien offensichtlich, dass Mary nicht hier wohnte. Philip setzte sich und nahm sich Toast, Spiegelei und Marmite. Nein,  hier wohnte wohl definitiv auch keine andere Frau, erkannte er, als er sich unauffällig umschaute. Unwillkürlich griff er in die Tasche seines Morgenmantels und seine Finger umschlossen einen metallenen Gegenstand, den er hervorzog und auf den Tisch legte. Es war das Zigarettenetui, das Hester ihm geschenkt hatte, jedoch vollkommen verbogen.  

Matt schaute ihn an und sein Gesicht wurde weich. „Ich hätte mir denken können, dass du das immer mit dir herumträgst. Wenn du das nicht in deiner Brusttasche gehabt hättest und wenn Hester dich nicht gefunden hätte….Sag mal, ist dir nicht gut?“ fügte er mit einem Blick auf Philips blasses Gesicht hinzu. „Du hast wahrscheinlich Recht und ich vertrage wirklich nichts mehr,“ entgegnete Philip und war froh, als Matt fortfuhr. „Weißt du, sie hat dich ja ziemlich oft im Krankenhaus besucht, als du im Koma lagst und wenn du mir nicht früher selbst mal gesagt hättest, dass sie dich anscheinend nicht leiden kann, hätte ich glatt gedacht…Na, ist auch egal, jetzt ist sie sowieso auf der Uni. Und bei dir geht es auch bald wieder los. Sechs Monate Urlaub – so gut möchte ich’s auch mal haben.“ Er wurde ernst. „Philip, ich weiß, es hört sich an wie ein Scheißspruch, aber das mit deinem Knie….Du hättest genau wie Rachel Argyle enden können…“ 

„Ich weiß, Matt, und du kannst mir glauben, dass ich sehr dankbar bin,“ erwiderte Philip langsam. Er brauchte Zeit, das alles zu verarbeiten, aber da stand Matt auch schon auf. „Tut mir leid, aber ich muss weg. Tut mir leid, dass die zwei Tage schon wieder um sind. Vergrab dich hier nicht. Vielleicht bringen es deine Studenten fertig dich etwas aufzuheitern. Und, komm uns bald mal besuchen. Dein Patensohn hat ein Recht auf seine Geschenke.“ Philip begleitete Matt noch an die Tür und sah ihm nach, wie er abfuhr. Er war noch immer wie vom Donner gerührt. Verdammt, wie sollte er herausfinden, was passiert war ohne dass die Leute dachten, er sei nicht klar im Kopf? Langsam ging er in die Bibliothek und öffnete seinen Schreibtisch. Hier würde er anfangen. 

~~~ 

Erschrocken war Hester aus dem Krankenzimmer gestürzt und hatte eine Krankenschwester gerufen, als sie sah, wie sich Philips Hand leicht bewegte. Mary wurde benachrichtigt und schon kurze Zeit später war Philip wach. Was bist du nur für eine Heuchlerin, dachte Hester, als sie Mary mit Tränen in den Augen an Philips Bett sitzen sah. Vorhin konntest du nicht schnell genug aus dem Krankenhaus kommen. Jetzt küsste sie sogar Philips Hand. Philip erholte sich erstaunlich schnell, auch wenn der Arzt Recht hatte, sein Bein blieb steif. Nur einige Wochen später kehrten er und Mary nach Hause zurück.  Hester war nicht mehr in Philips Krankenzimmer zurückgekehrt und besuchte ihn auch später nicht zu Hause. Als sie Wochen später wegfuhr um ihr Studium zu beginnen, wusste sie, dass dies wohl für lange Zeit das letzte Mal war, dass sie hierher kam. Nachdem die Erbschaft verteilt war und alle Geschwister bis auf den noch immer flüchtigen Jacko ihre Anteile am Fonds erhalten hatten, war Mickey damit beschäftigt ein Geschäft aufzubauen, für das er Tina ebenfalls begeistern konnte. Hesters Beziehung zu Mary hatte sich nicht verbessert, im Gegenteil. Vielleicht war es besser so, dass sie für immer Abschied nahm. Die Ehe zwischen Mary und Philip war zwar schlecht, aber wollte sie die nächsten Jahre wie die vergangenen verbringen und sich nach einem Mann verzehren, den sie nie haben würde? Es war Zeit ein neues Leben zu beginnen. An der Universität würde sie neue Leute kennen lernen und vielleicht würde sie Philip vergessen. 

Der Schreibtisch hatte sich als wahre Fundgrube erwiesen, alte Zeitungen mit Berichten über die Schüsse auf ihn und den Mord an Rachel Agyle, Scheidungspapiere, Schreiben von Marys Rechtsanwalt, ein Kaufvertrag für dieses Haus, Schreiben der Universität Oxford… Mary hatte offensichtlich ein schlechtes Gewissen gehabt, weil ihr Bruder Jacko Philip angeschossen hatte. Obwohl Philip laut Ehevertrag nichts aus dem Treuhandfonds zustand, wenn er die Scheidung einreichte, hatte sie ihm 30.000 Pfd. überschrieben, von denen er sich dieses Haus gekauft hatte. Die Regale in der Bibliothek waren mit Lehrbüchern gefüllt und beim Durchblättern hatte er zu seiner Erleichterung festgestellt, dass er diesen Stoff beherrschte.

Philip fand Karten des Dekans der Universität und verschiedener Kollegen, die ihm gute Besserung wünschten und ein Wiedersehn im neuen Semester. Philip lächelte; Wie oft hatte Mary darüber geschimpft, aber diesmal war es von Vorteil, dass er alles andere als ordentlich war. So konnte er Stücke der vergangenen Monate wie ein Puzzle zusammensetzen. Was er jedoch nicht fand, war irgendetwas von dem Menschen, von dem er sich am meisten gewünscht hätte zu hören – nicht eine Zeile von Hester. Natürlich bewies das nicht, dass sie nie hier gewesen war, aber das würde er herausfinden.  

Ein Besuch bei Leo Argyle noch am gleichen Tag sagte ihm, was er wissen musste. Hester hatte ihm zwar das Leben gerettet und  ihn im Krankenhaus besucht, aber danach nie wieder. Ihre Blicke an dem Tag, als sie ihm das Zigarettenetui gegeben hatte – er hatte sich alles nur eingebildet. Es war reines Wunschdenken gewesen; sie empfand nichts für ihn. Vielleicht sollte er froh sein, das jetzt zu wissen, ehe er sich zum Narren gemacht hätte. Er saß zwar nicht im Rollstuhl, aber sein Bein war steif geblieben. Er war ein respektabler Professor mit mittlerem Einkommen und Hester eine reiche Erbin. Während er sein Glas in den Händen drehte und in die Flammen im Kamin starrte, fasste er einen Entschluss. Er würde das Bestmögliche aus seinem neuen Leben machen, auch ohne Hester. Er hatte eine zweite Chance bekommen und er würde sie nutzen. 

Wenige Wochen später kehrte er an die Universität zurück. Er war ein Mann, der gut erklären konnte und seine Studenten liebten ihn, liebten die Art, wie er den Stoff lebendig machte. Doch es waren vor allen Dingen die Studentinnen, die mehr als einen Blick auf den jungen Professor warfen. Natürlich hatten sie in der Zeitung gelesen, was geschehen war. War das nicht faszinierend und sah der Mann abgesehen von der Tatsache, dass er auf einen Stock angewiesen war, nicht phantastisch aus? Und jetzt, wo er geschieden war….Es hieß zwar, dass er die Scheidung eingereicht hatte, aber natürlich war klar, dass seine Frau an allem Schuld hatte. Sie war jetzt reich und hatte ihren Mann loswerden wollen. Philip schien von den romantischen Gefühlen seiner Studentinnen nichts zu merken. Er war freundlich zu allen, aber er zog niemanden vor. Vielleicht war es einfach noch zu früh nach der Scheidung; so ein wunderbarer Mann konnte doch nicht allein bleiben. 

~~~ 

„Das wäre dann das letzte für heute, Beatrice.“ Philip unterschrieb den Bericht an den Dekan und seufzte erleichtert. Dann reichte er seiner Sekretärin die Mappe und lächelte sie an. Sie konnte ja nichts dafür, dass er diesen Papierkram hasste und er konnte froh sein, dass er so eine gute Sekretärin hatte. Darüber hinaus war sie wirklich ein angenehmer Anblick, schlank, mittelgroß, blonde Haare in einem ebenmäßigen Gesicht, ein bisschen wie Mary – autsch, das hätte er besser nicht denken sollen, das hatte sie nicht verdient. Philip räusperte sich und schüttelte seinen Kopf „Ich wüste gar nicht, was ich ohne Sie täte. Ich weiß, ich bin hoffnungslos, was Organisation betrifft.“ 

Beatrice lächelte ihn an. „Dafür haben sie ja mich, Professor Durrant. Soll ich Ihnen noch einen Tee machen, bevor ich gehe?“ 

„Das wäre nett, Beatrice,“ erwiderte Philip und wandte sich dann wieder seinen Büchern zu. Inzwischen erledigte er einen Großteil seiner Vorbereitungen hier an der Universität statt zu Hause. Der Vorteil war auch, dass er trinkbaren Tee bekam und Beatrice ihn mit Sandwiches und Kuchen versorgte. Warum sie wohl noch nicht verheiratet war? Sie trug keinen Ring und hatte auch nie etwas gegen Überstunden einzuwenden, also gab es wohl keinen Mann in ihrem Leben. Beatrice Stylptich schloss leise die Tür hinter sich. Sie hatte Philip noch eine Kanne Tee und zwei Sandwiches hingestellt und machte sich jetzt auf den Weg nach Hause. Als sie damals diesem jungen Professor zugeteilt worden war, hatte sie ihr Glück kaum fassen können. Der Mann war zu gut um wahr zu sein. Er schien keine Launen zu haben, auch wenn er manchmal etwas traurig wirkte, er war freundlich, nicht überheblich und schien etwas von seiner Arbeit zu verstehen. Sie hatte gesehen, dass sie ihm gefiel; Männer waren in dieser Beziehung wie ein offenes Buch. Aber leider war er zu zurückhaltend. So sehr sie das einerseits schätzte…. Beatrice seufzte. Vielleicht war er nur etwas scheu nach seiner Scheidung; wie dumm konnte seine Frau gewesen sein, so einen Mann laufen zu lassen. Mit etwas Geduld…

 Er bemerkte zum Glück nicht, wie oft sie ihn betrachtete, seine dunklen Haare und schlanken Finger. Wenn er ihr diktierte, musste sie immer die Anwandlung unterdrücken einfach nur seiner Stimme zuzuhören. Er war doch noch jung und sie war fast jeden Tag um ihn. Er würde merken, dass sie die Richtige für ihn war. 

~~ 

Unschlüssig drehte Philip seinen Fullfederhalter in der Hand. Er hatte Hester vergessen wollen, aber seine Gefühle spielten offensichtlich nicht mit. Vielleicht sollte er ihr schreiben, vielleicht wartete sie auf seinen Brief… Er konnte ja ganz unverfänglich einen Dankesbrief schreiben und sie zum Essen einladen, nicht bei sich zu Hause, sondern anderswo. Vielleicht….Sei nicht so ein Feigling, Philip. Hesters Gesicht tauchte vor ihm auf und er holte einen Bogen Schreibpapier aus seinem Schreibtisch. Einige Stunden und viele zerknüllte Briefbogen später rief Philip seine Sekretärin herein. „Beatrice, würden Sie das noch für mich zur Post bringen?“  

Kapitel 8 by Marianne

„Selbstverständlich, Professor Durrant,“ erwiderte Beatrice und nahm das Kuvert entgegen.

Philip saß noch eine Weile ohne weiterzuarbeiten an seinem Schreibtisch, nachdem seine Sekretärin das Zimmer verlassen hatte. Er atmete tief durch; vielleicht hatte es andere Gründe, dass sie sich bisher nicht gemeldet hatte, vielleicht… 

Anders als sonst hatte er den Brief bereits verschlossen und anders als sonst trug der Brief eine Privatadresse. Beatrice legte den Brief auf die übrige Post und holte die Briefmarken aus der obersten Schreibtischschublade. Dies war der erste private Brief, den Professor Durrant von hier geschrieben hatte. „Hester Argyle“ stand auf dem Umschlag. Beatrice erinnerte sich an den Namen; das war seine Schwägerin, die ihn damals gefunden hatte, so hatte es in der Zeitung gestanden. Der Brief schien sie regelrecht anzuschaun. Beatrice frankierte die Post und steckte den Stapel Briefe in ihre Aktenmappe; den obersten Brief ließ sie in ihrer Manteltasche verschwinden. Eventuell konnte sie ihn immer noch morgen abschicken.  

Der Brief schien ein Loch in ihre Manteltasche zu brennen. Noch nie hatte Beatrice etwas Derartiges gemacht. Sie fühlte sich, als ob jedermann, dem sie auf dem Heimweg begegnete, sehen könnte, dass sie etwas zu verbergen hatte. Schwer atmend schloss sie schließlich die Tür ihrer kleinen Wohnung hinter sich und legte den Brief auf die kleine Kommode im Flur. Beatrice ging in die Küche und setzte Teewasser auf, doch als das Wasser kochte, hatte sie noch nicht einmal die Teedose aus dem Schrank geholt. Sollte sie den Brief vielleicht doch noch zur Post bringen? Das Wasser kochte noch immer und der Dampf füllte die kleine Küche. Langsam stand Beatrice auf und holte den Brief. Keiner würde es merken…. 

Liebe Hester, 

ich habe mir lange überlegt, wie ich diesen Brief anfangen soll, vielleicht mit Dank, denn ohne dich wäre ich nicht mehr am Leben. Du und das Zigarettenetui, das du mir geschenkt hast, haben mir das Leben gerettet. Seitdem habe ich dich nicht wiedergesehn und ich würde mich gerne bei dir bedanken. Dein Verhalten beim letzten Mal gibt mir Anlass zur Hoffnung, dass die früheren Animositäten zwischen uns nur ein Missverständnis waren. Ich würde dich gerne zum Essen einladen, erinnerst du dich and das kleine Restaurant in der Nähe meines ehemaligen Hauses? Mein Vorschlag wäre von heute an in zwei Wochen um 8 Uhr abends. Wenn ich nichts weiter von dir höre, erwarte ich dich dort. 

Dein Philip  

Das war es also…. Auch wenn er den Brief vorsichtig formuliert hatte, wusste Beatrice doch, was er bedeutete. Entschlossen riss sie den Brief in kleine Fetzen. 

~~~ 

Philip saß schon eine Weile in dem kleinen Restaurant, aber er nahm die Aussicht kaum wahr. Frauen waren immer zu spät, oder? Er hatte sich inzwischen den dritten Tee bestellt und zog nervös an seiner Zigarette. Sie hätte ihm doch geschrieben, wenn sie keine Zeit gehabt hätte…Doch eine leise Stimme flüsterte: Sie hat dich versetzt, Philip. Sie hat nicht mal geantwortet. Du bist ihr völlig egal; deutlicher kann sie nicht mehr sein. Dies ist auch eine Antwort. Kein Besuch, keine Zeile und jetzt das…Es wurde Zeit, dass er den Tatsachen ins Auge sah. Philip winkte den Kellner heran und bezahlte. Beatrice sah am nächsten Morgen sofort, wie übernächtigt Philip aussah und brachte ihm ohne lange zu fragen einen Kaffee und mehrere Biskuits. Er war froh, wie ruhig und verständnisvoll sie war ohne aufdringlich zu sein. Sein Kopf schmerzte und er massierte seine Schläfen.

„Brauchen Sie noch etwas, Professor Durrant?“ fragte sie und lächelte ihn an.  

Es wird Zeit aus meiner Traumwelt zu erwachen. Es gibt noch andere Frauen als Hester, dachte Philip, als die Tür hinter Beatrice ins Schloss gefallen war. Sie hatte hübsche Beine. 

~~~ 

Ich bin ein Feigling, dachte Hester. Von Vater lasse ich mich über Philip auf dem Laufenden halten, aber ich bringe es nicht fertig auch nur einen einzigen Brief zu schreiben. Wie viele hatte sie angefangen und alle wieder zerrissen…Und wenn sie ihn anrief? 

„Universität Oxford, Vorzimmer Professor Durrant,“ tönte eine angenehme weibliche Stimme aus dem Hörer.  

„Guten Tag, mein Name ist Hester Argyle, könnte ich bitte Professor Durrant sprechen?“

„Er ist noch in einer Vorlesung. Kann ich etwas ausrichten?“ 

„Das wäre….Vielleicht könnte er mich zurückrufen, wenn er kommt. Meine Nummer ist…“ 

„....Ich habe Ihre Nummer notiert, Miss Argyle und gebe ihm Bescheid. Es sollte nicht lange dauern; er dürfte in etwa in einer halben Stunde hier sein.“ 

Erleichtert legte Hester auf. Sie hatte sich darauf gefreut seine Stimme zu hören, aber sie wusste nach wie vor nicht, was sie ihm überhaupt sagen sollte. Vielleicht nachher, wenn er zurückriefe… Doch drei Stunden später war ihr klar, dass er nicht anrufen würde. Selbst wenn noch etwas dazwischengekommen wäre, er hätte die Nachricht längst erhalten. Philip wollte nicht anrufen, er wollte keinen Kontakt. Sie hatte sich wohl nur eingebildet, dass er Interesse an ihr hatte. Der Tag, an dem sie ihm das Zigarettenetui geschenkt hatte, sie war so sicher gewesen, dass er etwas für sie empfand, als er sie aufhalten wollte. Er war jetzt geschieden, er war frei, aber offensichtlich hatte er kein Interesse sie auch nur kurz zu sprechen. Noch nicht einmal das, was man aus purer Höflichkeit erwarten konnte…Offensichtlich hatte sie sich in ihm getäuscht. Nicht dass sie eine große Dankesrede erwartet hätte, aber…Siehs ein, Hester, du hast dich wieder einmal zum Narren gemacht.  

~~~ 

Philip legte seine Bücher auf den Schreibtisch. „Irgendwelche Nachrichten, Beatrice?“ 

„Nein, Professor Durrant, es war ruhig heute.“ Philip lächelte seine Sekretärin an. Sie war wirklich ein Glücksgriff. „Beatrice, haben Sie für Samstag schon etwas vor?“ 

~~~ 

Auch in den nächsten Wochen lud Philip Beatrice zu Unternehmungen ein. Sie waren unverfänglich, ein Theaterbesuch, ein Museum, ein gemeinsamer Lunch. Beatrice wurde ungeduldig. Es war ja gut, dass er kein Draufgänger war, aber er hatte sie noch kein einziges Mal geküsst, nicht  ein einziges Mal hatte es auch nur die Andeutung einer Zärtlichkeit gegeben. 

Philip blickte auf die gut aussehende junge Frau ihm gegenüber. Er wusste, dass sie in ihn verliebt war. Sie war in gewisser Weise die ideale Frau. Er räusperte sich und leckte nervös seine Lippen. „Beatrice, ich möchte dir etwas sagen…“

 

Philip räusperte sich erneut und Beatrice merkte, wie nervös er war. Aufmunternd lächelte sie ihn an. „Beatrice, ich habe die vergangenen Wochenenden mit dir sehr genossen und du bist eine junge Frau, die…..“ Er stockte und begann von neuem. „Ich glaube, ich war unfair dir gegenüber….du hast nicht verdient….Ich mag dich sehr, aber…“

Bereits nach den ersten Worten hatte Beatrice begriffen. So sah kein glücklicher Mann aus, der eine Liebeserklärung machen wollte: Ja, er mochte sie, aber es war nicht mehr und würde wohl auch nie mehr werden. Sie starrte vor sich hin, sah vor sich, wie er weitersprach, aber die Worte drangen nicht zu ihr vor. Sie blinzelte. „….wollte dich nie verletzen und ich hoffe, dass du mir verzeihst.“ 

Da saß er vor ihr und bat sie um Verzeihung. Wenn er wüsste, was sie getan hatte…Entschlossen schüttelte Beatrice den Kopf. „Nein, natürlich weiß ich, dass du mir nicht wehtun wolltest. Ich habe diese Zeit auch genossen und du hast dir wirklich nichts vorzuwerfen. Wir verstehen uns gut und mehr ist es eben nicht.“ 

Trotz Beatrice’ Worten machte Philip sich nichts vor; er wusste, dass sie enttäuscht war. Es entstand eine unangenehme Stille zwischen den beiden und schließlich gaben es beide auf so zu tun als ob und Philip brachte Beatrice nach Hause.  

Was hatte er da nur angerichtet! Als er Beatrice eingeladen hatte, war er felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sich eine Beziehung entwickeln konnte, aber später hatte er erkannt, dass er sie zwar mochte, sich aber nie in sie verlieben konnte. In was für eine Situation hatte er sie da gebracht? Sie empfand offenbar mehr für ihn und würde weiter für ihn arbeiten. Wenn Hester doch nur….Aber sie hatte mehr als deutlich gemacht, dass sie nichts für ihn empfand. 

Über sich selbst und die Welt wütend fuhr Philip nach Hause zurück. Er schmiss seinen Mantel über den Sessel neben dem Schreibtisch und ging zur Kredenz um sich einen Whiskey einzuschenken. Mitten in der Bewegung stockte er. Was machte er hier überhaupt? Er hatte eine zweite Chance bekommen, Mary lebte, er konnte wieder laufen und hatte Kirsten davor bewahren können einen Mord zu begehen, wenn er auch nicht hatte verhindern können, dass Rachel Argyle starb. Und jetzt stand er hier und fluchte, weil nicht alles so lief, wie er es sich wünschte?

Als er damals in seinem Schlafzimmer aufgewacht war und festgestellt hatte, dass er seine Beine bewegen konnte, war er so glücklich und dankbar gewesen. Wie lange hatte diese Dankbarkeit gehalten?  Er würde nicht verhindern können, dass er sich immer wieder nach Hester sehnte, aber das durfte nicht sein ganzes Leben bestimmen. Matt hatte ihn gewarnt sich zu vergraben und doch war es das, was er größtenteils gemacht hatte. Er hatte sich in seine Arbeit gestürzt, die gut war, da gab es keinen Zweifel, aber er hatte das große Bild aus den Augen verloren. Philip atmete tief durch und stellte sein Glas weg. Das brauchte er heute Abend nicht mehr.  

~~~ 

Beatrice schossen die Tränen in die Augen, als sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Was hatte sie da angerichtet! Sie war so fest davon überzeugt gewesen, dass sie für Philip eine gute Frau sein konnte, dass er sie lieben würde, wenn er nur die andere Frau vergäße und sie hatte ihn unglücklich gemacht. Was sollte sie tun? Wie sollte sie Philip unter die Augen treten und ihm sagen, dass sie seinen Brief an Hester Argyle zerrissen und ihren Telefonanruf unterschlagen hatte? Das konnte sie nicht; er würde jeglichen Respekt vor ihr verlieren und das mit Recht. Vielleicht war es ja auch nicht so schlimm; vielleicht wären die beiden doch nie ein Paar geworden. Der Anruf von Hester Argyle musste nicht gleich bedeuten, dass sie an ihm interessiert war. Sie hatte sich doch auch sonst nie gemeldet und Philip hatte in dem Brief etwas von Animositäten geschrieben. Beatrice wischte die Tränen weg, die immer wieder ihre Wangen hinunterliefen, aber es half nichts. Sie wusste, dass sie sich in die eigene Tasche log, und sie wusste auch, dass sie nicht die Kraft aufbringen würde Philip die Wahrheit zu sagen. Als sie am nächsten Morgen zur Arbeit ging, schien vordergründig alles in Ordnung; die Atmosphäre war etwas anders als sonst; es war nichts Greifbares, und niemand, der die beiden gesehen hätte, wäre auf den Gedanken gekommen, dass irgendetwas vorgefallen sein könnte. Vielleicht würde alles wieder wie vorher, dachte Beatrice.

Er war verändert, das war ihr sofort aufgefallen, sogar fröhlicher als sonst, und ging sogar noch mit ein paar Kollegen in einen Club, was sie in der ganzen Zeit, in der sie ihn kannte, noch nicht erlebt hatte.  Ihr gegenüber war er nett wie immer und nach einiger Zeit glaubte Philip fast, dass er sich Beatrice’ Gefühle nur eingebildet hatte. Wahrscheinlich sah sie in ihm doch nur jemanden, mit dem man sich gut verstehen konnte. Philip war erleichtert und bemerkte ihre Blicke, die auf ihm ruhten, nicht. Sie hätten ihm leicht verraten, wie sehr er sich täuschte.  

Philip vergaß Hester nicht, aber er würde sie wohl nie vergessen. Er wusste auch, dass er keine neue Beziehung anfangen würde, wenn es ihn nicht wirklich wie ein Blitz traf. Er hatte Mary geheiratet ohne sie wirklich so zu lieben, wie es sein sollte und er würde den gleichen Fehler nie wieder machen. Er war dankbar, dass er jetzt ohne Groll sein konnte. Hester empfand nichts für ihn, aber dafür konnte sie nichts, genauso wenig, wie er seinen Gefühlen bzw. Nicht-Gefühlen für Beatrice befehlen konnte. Sie hätte ihn anrufen und ihm sagen können, dass sie nicht kommen würde, aber vielleicht war sie enttäuscht gewesen, dass er sich nicht vorher gemeldet hatte. Es war geschehen und er konnte nichts ändern, aber er merkte, wie freudig er jetzt auf sein Leben schaute, wie er dankbar jeden neuen Tag erwarten konnte. Nur eins gab es, was ihn manchmal mit Sorge erfüllte. Waren die Studentinnen schon vorher von ihm angetan gewesen, so schien die neue Seite an ihm ihn noch unwiderstehlicher zu machen. Es war anstrengend, empfand Philip, sehr anstrengend, ein Schwarmobjekt zu sein.

 

Kapitel 9 by Marianne

Neugierig öffnete Hester den Brief ihres Vaters. Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen; wahrscheinlich hatte er schon mehrmals versucht sie anzurufen und sie nicht erreicht, wenn er ihr jetzt schrieb. Das Studium kostete viel Zeit und Energie und war für sie zudem eine Möglichkeit nicht an Philip zu denken. Dennoch hätte sie mehr Kontakt zu ihrem Vater halten müssen. Es war nur einfacher erschienen alles auszublenden, was sie an Philip erinnerte. Es war verrückt, sie hatte nie eine Beziehung zu Philip gehabt, es war alles nur Wunschdenken gewesen. Sie hatte ihn nur wenige Male überhaupt berührt und das war, als er bewusstlos und dem Tode nah war. Vielleicht war es deshalb so schlimm und sie konnte ihn nicht vergessen. Der wirkliche  Mann war nicht so liebenswert, wie er in ihrer Vorstellung war. Er hatte sie nicht einmal zurückgerufen.

Hester blinzelte und musste wider Willen lächeln. Immer wieder Philip; dabei gab es doch auch andere nette Männer. Allerdings machte Hester sich nichts vor. Sie wollte zurzeit keine Beziehung und für ihr Studium war es sowieso einfacher. Warum hatte  sie sich nicht in einen Mann wie Steven Pritchet verlieben können? Er war groß, blond und gut aussehend. Steve war Sportlehrer auf dem Campus und es machte Spaß mit ihm zusammen zu sein; er lachte gerne ohne oberflächlich zu sein, -  und er war der Freund von Ella Pears, ihrer besten Freundin. Sie gönnte es Ella von Herzen; Steven und Ella waren ein wundervolles Paar und Hester hatte selten einen Mann so offensichtlich verliebt gesehen und so ungeniert es zu zeigen.

Hester entfaltete den Bogen Papier: Ihre Vater würde Gwenda heiraten. Wie wunderbar! Hester hatte Gwenda immer sehr gerne gemocht und sie gönnte ihr und Vater dieses Glück. Manchen mochte es etwas früh nach dem Tod von Rachel Argyle erscheinen, aber Hester wusste, dass es immer Menschen geben würden, die sich das Maul zerrissen, egal welchen Zeitpunkt die beiden wählen würden. Von Gwenda würde Vater die Anerkennung bekommen, die ihm Rachel immer verwehrt hatte. Vater hatte bereits mehrfach versucht Hester telefonisch zu erreichen um es ihr persönlich zu sagen, aber vergeblich. Die Hochzeit würde bereits in zwei Wochen stattfinden. Er bat sie vorher zu kommen und etwas zu helfen und hatte bereits eine Gästeliste beigefügt – Philip stand auch darauf.

Hesters Herz fing an zu klopfen. Er hatte klar gemacht, dass er sich für sie keine Zeit nehmen würde; sie würde einfach so tun als sei nichts vorgefallen und als mache es ihr nichts aus, dass er nicht zurückgerufen hatte. 

~~~ 

Eine Einladung zur Hochzeit….Leo hatte darauf bestanden. Trotz seiner Scheidung von Mary gehöre er noch immer zur Familie und Gwenda sähe es genauso. Mary würde mit ihrem Verlobten dasein und wenn das Philip nicht störe... Er würde sich sehr freuen, hatte Leo gesagt und schließlich hatte Philip zugesagt. Die Tatsache auf Mary zu treffen, machte ihm wirklich nichts aus, eher schon, dass Hester natürlich da sein würde. Leo hatte ihm gesagt, dass ie alleine käme und es wohl auch keinen Mann in ihrem Leben gäbe. 

~~~ 

Es war eine schöne Trauung gewesen, die Freude be Leo und Gwenda so offensichtlich. In der großen Menge an Menschen, die die Kirche besucht hatten, war es Philip gelungen Hester zu vermeiden, doch jetzt… Als er die Tischkarten studierte, stelle er fest, dass er genau gegenüber von Hester saß. Gwenda flüsterte ihm kurz zu, sie wisse, dass seit dem Vorfall mit Jacko noch keine Gelegenheit gehabt hatte mit Hester zu sprechen und sie sei sicher, dass die alten Animositäten eine für allemal begraben seien.  Es wurde ein Apérétif gereicht und Philip stand neben Mickey, als Hester den Raum betrat. Ein grünes Seidenkleid umspielte ihre zierliche Figur; Philip hatte sie nie schöner gesehen und ertappte sich dabei, wie er sie anstarrte. Mickey neben ihm schaute ihn überrascht und stirnrunzelnd an.

~~~

 

 Hatte sie vergessen, wie gut er aussah und wie er lächeln konnte?  Zu Hause hatte sie sich einreden können, sie sei über ihn hinweg, doch als sie ihn am anderen Ende des Raumes entdeckte, merkte sie, wie ihr das Herz bis zum Halse klopfte. Er sah wunderbar aus in dem Smoking und der Stock, auf den er sich stützte, tat dem keinen Abbruch. Warum starrte er sie so an? Das sah weniger nach schlechtem Gewissen aus als nach…..Schon wieder Wunschdenken, Hester. Wirst du denn nie vernünftig? Sie fasste sich schnell wieder und ging auf Philip zu Wenn sie ihn jetzt ansprach und ein wenig Smalltalk machte, hatte sie es hinter sich. Es waren genügend Gäste da, mit denen sie sich würde unterhalten können.

„Hallo, Philip….Du siehst gut aus….“ Warum hatte sie das gesagt? Warum verlor sie in Gegenwart dieses Mannes nur ständig die Fähigkeit sich ausdrücken zu können? 

Philip schien verlegen; er blinzelte, lächelte sie dann aber an. „Hester….“ Viel mehr sagte er nicht und nur wenig später wurde das Essen aufgetragen. Philip bliebe recht einsilbig. Es machte sich bei Ihnen die gleiche Sprachlosigkeit breit, die schon früher geherrscht hatte. Nach dem Essen nahm Philip sein Zigarettenetui aus der Jackentasche. „Du hast es noch?“ platzte Hester heraus.

 „Natürlich!“ Philip nickte überrascht. „Es hat mir das Leben gerettet; du hast mir das Leben gerettet. …Ich hätte mich gerne persönlich bedankt….“ 

„Und warum hast du es nicht getan?“ entgegnete Hester, und Philip glaubte mühsam unterdrückte Zorn in ihrer Stimme zu erkennen.

„Aber du warst es doch, die…“ 

„Hallo, Philip, kann ich dich einen Augenblick sprechen?“ Philip hatte die Art von Mickey einfach in Gespräche zu platzen immer gehasst, aber in diesem Augenblick war er froh entfliehen zu können, bevor er ihr unverblümt seine Meinung an den Kopf warf und die Hochzeit ruinierte. Hester hatte Nerven! Wie einen dummen Jungen hatte sie ihn versetzt und tat jetzt so, als wüsste sie von nichts. Energisch schob er den Stuhl nach hinten. „Du entschuldigst mich, Hester,“ sagte er fast grob und erhob sich. Wie er fast erwartet hatte, war das, was Mickey ihm zu erzählen hatte, nichts Wichtiges. Es ging mal wieder um einen neuen Wagen, den er sich gekauft hatte und Philip hörte nur mit halbem Ohr zu. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er Hester, die ihm noch immer nachstarrte. Sie war zornig; sie war zornig auf ihn? In den folgenden Stunden vermied er es weitere Worte mit Hester zu wechseln; wozu sollte das gut sein? In der Halle standen sie plötzlich nebeneinander, als er Mantel und Schal anzog. Plötzlich konnte er nicht mehr an sie halten. „Du hättest einfach Bescheid geben können, dass du nicht kommst.“ Dann drehte er sich um und ging, ohne Hester weiter anzuschaun.

 

Immer noch wütend schloss Philip die Haustür hinter sich. Lernte er denn gar nichts dazu, wo Hester betroffen war? Er hängte den Schal an den Garderobenhaken und unwillkürlich griff er in seine Manteltasche und fühlte den kleinen Gedichtband, den er fast immer mit sich herumtrug. Mit ihm hatte alles angefangen, aber jetzt schien es, als sei er am Zielpunkt angelangt. Es hatte sich schon lange nichts mehr ereignet. Er holte das Büchlein heraus und legte es auf die Kommode. Sanft strichen seine Finger über den abgegriffenen Ledereinband. 

~~~ 

Von hinten schlangen sich zwei weiche Arme um seine Brust. 

“Ich liebe dich, Philip.“

Philip erstarrte – Hester! Er drehte sich um und blickte in ihr spitzbübisches Gesicht. Er blinzelte, aber sie war eindeutig Wirklichkeit und kein Produkt seiner Phantasie. Wie war sie so schnell hierher gekommen? Er hatte auf dem Heimweg niemanden gesehen….War die Ablehnung, die er in ihrem Blick zu sehen geglaubt hatte, nur Einbildung gewesen? Was….? 

Die Verblüffung musste sich in Philips Blick widerspiegeln, denn Hesters Blick wurde unsicher. „Freust du dich nicht mich zu sehen? Ich habe die nächsten Tage keine Vorlesung und wollte dich überraschen.“ 

„Oh doch, Hester,“ erwiderte Philip leise. „Oh, doch.“ Er zog sie an sich und spürte ihre weichen Formen unter der Bluse und dem Rock. Nur kurz wunderte er sich, warum sie sich umgezogen hatte. Ihre Lippen waren warm und weich und ihre Haut zart wie die eines Babys.  Seien Lippen suchten die ihren, er küsste sie sanft und Hester stöhnte leise; seine Arme schlossen sich fest um sie, presste sie an sich um strich über ihre Haare, barg sein Gesicht darin und atmete den Duft ein. „Du ahnst nicht, wie sehr ich mich danach gesehnt habe dich im Arm zu halten,“ raunte Philip heiser.

„Du tust meinem Denkvermögen nicht gut,“ lachte er dann. „Wie bist du so schnell hierher gekommen?“

Sie schmiegte sich an ihn und er merkte an ihrer Reaktion, dass sie sehr wohl bemerkte, was sie bei ihm auslöste. „Ich hatte Unrecht,“ flüsterte sie leise und dann schaute sie an ihm hoch. „Du freust dich offensichtlich sehr, dass ich hier bin.“

Philip sah, wie sie sich auf die Lippen biss, da sie trotz der Bemerkung, die sie leichthin gemacht hatte, etwas verlegen war.

„Ich wollte dich überraschen und nachdem heute keine Vorlesung war.  - Wo warst du denn?“ 

Philip schaute sie verwirrt an – wieso Vorlesung? Es war Wochenende, sie waren gerade von der Hochzeit…. Doch dann wurde ihm heiß und kalt. Auf einmal sah er, was nicht stimmte. Er hatte nicht viel Ahnung von Frisuren oder von Makeup, aber dennoch sah er, dass sie anders aussah als vorher Sie konnte nicht von der Hochzeit gekommen sein; nicht nur, dass sie andere Kleidung trug, auch ihre Haare waren anders. Das musste… Was war hier passiert? Das war nicht die Vergangenheit, das musste die Zukunft sein, zumindest eine mögliche Zukunft und das hatte er in der Hand. Es war noch nicht zu spät! 

„Geht’s dir nicht gut, Philip?“ 

„Doch; Hester….“ Er zog sie wieder an sich. In diesem Moment war es ihm egal, dass dies wohl gar nicht Wirklichkeit war, denn ob sich die Zukunft so erfüllen würde, wie er es hoffte? Vielleicht war dies das erste und letzte Mal, wo er Gelegenheit hatte zu träumen.  

„Ich bin so froh,“ flüsterte Hester. „Ich habe mich schon damals in dich verliebt, als Mary dich das erste Mal mitbrachte und habe sie noch nie so beneidet wie zu diesem Zeitpunkt. Noch nie hatte ich mir gewünscht so schön zu sein wie sie und jetzt stehe ich hier mit dir. Manchmal denke ich, ich befinde mich in einem Traum. Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir in noch nicht einmal einem Monat verheiratet sind.“ 

Philip schluckte. Alles, was er sich erträumt hatte, konnte wahr werden.  „Ich habe eine Überraschung für dich, Philip. Du hast zwar gesagt, wir brauchen keine große Hochzeitsreise, aber…. Ich dachte, du freust dich bestimmt. Ich will dir etwas zeigen; kommst du mit ins Arbeitszimmer?“ 

Philip nickte und Hester ging vor, während er seinen Mantel auszog. Dann griff er nach dem Gedichtband auf der Kommode und steckte sie in seine Anzugjacke. Dass er das nicht bemerkt hatte. Es hätte ihm doch gleich auffallen müssen, dass er überhaupt keinen Smoking trug. Hester hatte ihn offensichtlich abgelenkt. Er lächelte und betrat das Arbeitszimmer.  Wo war Hester? Sie hatte von einer Überraschung gesprochen, aber sie war nicht so kindisch, dass sie sich verstecken würde. „Hester?“ Nichts – es blieb ruhig, er war allein…. Das Buch, der Gedichtband….Philip stöhnte; er wusste doch längst, dass seine Zeitreisen mit diesem Büchlein zusammenhingen. Doch ein Gutes hatte dies alles gehabt, er wusste jetzt, wie ihre Küsse schmeckten und er würde nicht aufgeben, bis sie ihm gehörte. Sie hatte zugegeben, dass sie ihn liebte und vielleicht war alles nur ein Missverständnis gewesen, dass sie auf seinen Brief nicht reagiert hatte. Er würde sie anrufen oder, vielleicht noch besser, er würde sie besuchen. Wenn er ihr gegenüberstand, würde sie ihm nicht ausweichen können. In den kommenden zwei Tagen war sein Terminplan voll gestopft, aber dann…. 

Er war noch immer gut gelaunt, als er am Montag an die Universität zurückkehrte. Seltsam, Beatrice war noch gar nicht da; sonst war sie schon immer vor ihm  am Arbeitsplatz. Philip saß schon eine ganze Weile an seinem Schreibtisch und sah verschiedene Schreiben durch, als  er die Tür hörte. Kurze Zeit später betrat Beatrice sein Zimmer und Philip sah sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie war blass und sah übernächtigt aus, ihre Bewegungen waren fahrig. Schon ein paar Mal hatte er in den vergangenen Tagen  gedacht, dass sie anders war als sonst.

„Ist etwas nicht in Ordnung, Beatrice?“ fragte er besorgt und stand auf, doch Beatrice trat einen Schritt zurück.

„Philip, ich….Ich habe etwas getan, was du mir vermutlich nicht verzeihen kannst, was ich mir selbst nicht verzeihen kann…und ich….ich habe meine Kündigung mitgebracht.“ Auf Philips verständnisloses Gesicht hin fuhr sie fort. „Ich hatte gedacht, dass…du und ich….und dann…dein Brief an Hester Argyle ist nie zur Post gegangen…Bitte verzeih mir….“ Tränen standen in ihren Augen; dann legte sie legte einen Briefumschlag auf den Schreibtisch und floh regelrecht aus dem Zimmer; Philip blieb fassungslos zurück.    

Kapitel 10 by Marianne

Sie hatte ihn nicht versetzt, sie hatte seinen Brief nur nie bekommen….Während er noch dastand und Beatrice Worte langsam einsanken, wurde Philip so einiges klar. Er hatte nicht verstanden, wie ihm die Hester der Zukunft sagen konnte, dass sie ihn schon von Anfang an geliebt hatte, aber dann auf seinen Brief hin nicht gekommen war. Es hatte sie wahrscheinlich sehr verletzt, dass sie nichts von ihm gehört hatte, obwohl er ihr sein Leben zu verdanken hatte. Und Beatrice…. Sie empfand weit mehr für ihn als sie zugegeben hatte. Philip wusste, dass er selbst durch sein Verhalten mit dazu beigetragen hatte, dass sie sich Hoffnungen auf eine Beziehung gemacht hatte. Sie war eine nette junge Frau, die vielleicht eines Tages jemanden finden konnte, der sie liebte. Sie tat ihm fast leid und im Moment überwog die Freude, die er empfand, dass vielleicht noch alles gut würde. 

~~~ 

Ein kurzes Klopfen an der Tür und dann stürzte Ella ins Zimmer, ihr Strahlen unübersehbar. „Hester, ich muss dir unbedingt….Sag mal, geht es dir nicht gut?... Du siehst irgendwie bedrückt aus. Ich dachte, du freust dich, dass dein Vater wieder geheiratet hat.“ Ella schaute ihre Freundin besorgt an.

Hester war blass und einsilbig, etwas, was Ella gar nicht an ihr kannte. Als Ella sie fragend anschaute, holte sie tief Luft. „Vielleicht ist es Zeit, dass ich mal drüber rede. Ich habe es bisher niemandem gesagt. …“ Ella setzte sich und Hester fuhr fort. „Über den Mord an meiner Mutter und dass Jacko auf meinen Schwager Philip angeschossen hatte, weiß jeder Bescheid; das war in den Zeitungen. Doch nicht sehr viele wissen, dass ich Philip gefunden hatte. Es war…ich hatte ihm ein Zigarettenetui geschenkt und …das hat die Kugel abgelenkt, sonst hätte er nicht überlebt. Er hat sehr viel Blut verloren und lang im Koma gelegen. Sein Bein ist steif geblieben und er war noch lange im Krankenhaus. Ich hatte ihn seither nicht gesehen, aber ich dachte, er meldet sich bei mir…Als ich dann in der Universität anrief…Er hat nicht einmal zurückgerufen. Und jetzt habe ich ihn auf der Hochzeit gesehen und er tat doch tatsächlich, als ob er Grund hätte böse auf mich zu sein….“ 

Sie stockte und Ella schaute sie sinnend an. „Das Wichtigste hast du nicht ausgesprochen, oder, Hester? Du liebst ihn…“ Ella nahm ihre Freundin in den Arm. „Weiß er, was du für ihn empfindest?“ 

„Ich glaube nicht,“ sagte Hester langsam. „Ich habe mich in ihn verliebt, als Mary ihn das erste Mal mitgebracht hat, aber Ich habe von Anfang an so getan, als ob ich ihn nicht leiden könnte. Es war Selbstschutz, und ich hatte immer Angst, dass irgendeiner etwas merkt. Vater fragte mich mehr als einmal, ob ich mich ihm gegenüber nicht etwas freundlicher benehmen könnte. gut miteinander aus. Die beiden kommen sehr gut miteinander aus. Ich glaube, ich habe alle getäuscht. Ich habe ihn auch immer gemieden, nur einmal, als ich wusste, ich musste auf die Universität, da habe ich ihn um Hilfe gebeten und da war es auch, dass ich ihm als Dankeschön das Zigarettenetui gekauft habe. Als ich es ihm gegeben habe, hat er mich auch ganz seltsam angeschaut und für einen Moment dachte ich….Aber das war Einbildung….“ Sie schüttelte den Kopf. „Es hat mich ziemlich mitgenommen ihn jetzt zu sehen. Du hast ihn nie kennen gelernt. Ich meine, du hast ja Steven, aber wenn du einmal in seine Augen geblickt hättest….Ich rede Unsinn…“ Hester biss sich auf die Lippen. „Das Beste ist, wir reden nicht mehr drüber.“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du dich täuschst, Hester,“ erwiderte Ella. „Er weiß doch, dass er dir sein Leben zu verdanken hat. Vielleicht hat es nur ein Missverständnis gegeben, gerade wenn er so seltsam reagiert hat bei der Hochzeit. Warum rufst du ihn nicht an? Im Übrigen hast du Recht.“ Sie grinste wieder. „Ich habe meinen Steven, aber dein Philip muss ja wirklich toll aussehen, wenn du so schwärmst. Du hast doch bestimmt ein Bild?“

 „Er ist nicht mein Philip,“ erwiderte Hester. „Ja, ich habe ein Bild und ich zeige es dir, damit du Ruhe gibst. Ich weiß, du meinst es gut, aber…“ Das Bild war einmal auf einer Familienfeier aufgenommen worden und inzwischen  ziemlich abgegriffen.

Ella sah, wie vorsichtig und liebevoll Hester das Bild anfasste und schüttelte den Kopf, während sie es in die Hand nahm. „Ich glaube, du belügst dich selbst. Du musst es klären, denn sonst kommst du nie über ihn weg. Ich kenne dich inzwischen gut genug…..Er sieht wirklich sehr gut aus…Ist er immer so ernst?“

„Er lacht selten,“ erwiderte Hester. „Aber wenn er lacht, dann meinst du…“ Sie wurde rot und brach ab. „Ich weiß, dass du mir irgendetwas sagen wolltest. So, wie du reingekommen bist. Was gibt es?“ 

Ella merkte, dass Hester nicht weiter über Philip sprechen würde und drang nicht weiter in ihre Freundin. „Ja, es gibt etwas, was ich dir gerne erzählen würde. Kommst du mit in das kleine Café am Rande vom Campus?“

~~~

Vielleicht hätte er doch vorher anrufen sollen. Hester hatte wohl keine Vorlesung und schien auch nicht in ihrem Zimmer zu sein, denn auf sein Klopfen öffnete niemand. Philip wandte sich enttäuscht ab, als eine junge Frau ihn auf der Treppe ansprach. „Sie wollten zu Hester Argyle? Die haben Sie knapp verpasst; sie ist eben in Richtung Café gegangen.“  

Philip merkte, wie sein Herz klopfte, als er sich dem Café näherte. Er hatte damit gerechnet allein mit ihr reden zu können. Verdammt, er fühlte sich wie ein Schuljunge mit seiner ersten Liebe und nicht wie ein Professor! Gleichzeitig war er froh, dass er wusste, dass er so fühlen konnte. Er öffnete die Tür und trat ein. Das Café war recht voll und es dauerte eine Weile, bis er sie an einem Tischchen am anderen Ende des Raumes entdeckte.  

 

Es war immer schwierig in dem Gewühl einen freien Tisch zu ergattern, aber Steven wartete bereits auf Ella und Hester. Er hatte wie immer ein freundliches Lächeln für Hester, aber als er Ella anschaute, wurde Hester wieder bewusst, wie sehr sie sich nach so einer Liebe sehnte.  Kurze Zeit später stellte die Bedienung Tee und Scones vor sie hin und Hester schaute ihre Freundin erwartungsvoll an. „Du hast vollkommen Recht gehabt,“ strahlte Ella. „Ich wollte dir etwas Wichtiges sagen. Steven, magst du…?“ 

„Ella und ich werden heiraten und zwar schon bald. Wir sehen keinen Grund länger zu warten, denn wir sind uns sicher…“ Er schaute Ella zärtlich an und fuhr dann, an Hester gewandt, fort. „Hester, wir wollten dich fragen, ob du unsere Trauzeugin sein möchtest.“ 

„Von ganzem Herzen,“ erwiderte Hester. „Ich freue mich so für euch.“ Sie hatte schon länger damit gerechnet und es war richtig. Gerührt blinzelte sie und fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. „Nicht, dass ihr meint, ich breche in Tränen aus, weil ihr beide heiratet; ich freue mich so für euch.“ 

Ella schluckte; sie wusste, wie schwierig es für ihre Freundin sein musste, eine so glückliche Liebe zu sehen, wenn ihr dies selbst versagt blieb. Aber Hester war nie missgünstig gewesen und Ella wusste, dass sie sich wirklich von Herzen freute. Sie merkte, wie ihr selbst die Tränen in die Augen traten und stand schnell auf. „Ich bin gleich wieder da.“ Damit entfernte sie sich in Richtung Waschraum. Das hätte noch gefehlt, zwei heulende Frauen hier im Café!

Steven und Hester blieben zurück. „Habt ihr schon ein Datum festgesetzt?“ fragte Hester und Steven nickte. „Es wird nur eine kleine Feier, denn wir haben beide keine große Verwandtschaft. Meine Eltern leben beide nicht mehr. Der Termin ist in drei Monaten.“ Hester lächelte Steven an. „Ich meinte, was ich sagte. Ella könnte keinen besseren Mann bekommen als dich und ich weiß, ihr werdet glücklich.“ 

„Danke,“ lachte Steven und drückte ihre Hand.  Philip stand neben der Eingangstür und sah Hester den Mann, der ihr gegenübersaß, glücklich anlächeln. Er drückte ihre Hand und Philip wusste, er war zu spät gekommen; Hester hatte jemand anderen gefunden. Wie betäubt starrte er auf die beiden. Die Hester, die ihm gesagt hatte, dass sie ihn liebte, war nicht aus der Zukunft gewesen, sondern hatte ihm lediglich gezeigt, was hätte sein können, hatte nur seine Wunschträume abgebildet. Es war nicht möglich dies hier misszuverstehen und vielleicht hätte er es sich auch denken können. In der Realität gaben sich reiche Erbinnen nicht mit verkrüppelten Professoren ab. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Café. 

Ella kam aus dem Waschraum und ihr Blick streifte einen Mann, der in der Nähe des Eingangs stand. Er stand da, auf einen Stock gestützt, und schaute mit starrem Blick in den Raum hinein. Das war doch….Ella folgte seinem Blick und, richtig, er schaute in Richtung des Tisches, an dem Steven und Hester saßen. Doch er trat nicht näher, sondern wandte sich abrupt ab und verließ das Lokal.Als Ella an den Tisch zurückkehrte, sah Hester sofort an ihrem Gesichtsausdruck, dass irgendetwas nicht stimmte. „Sag mal, Hester, hast du den Mann gesehen, der gerade am Eingang stand?“ Als Hester den Kopf schüttelte, fuhr sie fort. „Du hattest mir doch vorhin das Bild gezeigt, aber ich bin nicht ganz sicher. Hat Philip dunkle wellige Haare und helle Augen und sagtest du nicht, dass sein Bein steif geblieben ist?“

Hester holte noch einmal das Bild aus ihrer Handtasche, während Steven die beiden etwas ratlos betrachtete. „Steven, ich erkläre dir das später,“ lächelte Ella und betrachtete das Foto, das Hester ihr reichte, eingehend. „Das war er, Hester, er war gerade hier und hat zu dir rübergeschaut. Er wollte bestimmt zu dir.“ 

„Und warum ist er dann gegangen? Du täuschst dich, Ella, das war er nicht.“ „Er ist gegangen,“ sagte Ella nach einer Weile triumphierend, „weil er, als er hier herübergeschaut hat, das gleiche gesehen hat wie ich – einen Mann und eine Frau, die sich anlächeln. Nur wusste er nicht, was es wirklich zu bedeuten hat. Hester, das war dein Philip, ich bin ganz sicher und er war eifersüchtig. Du hättest mal seinen Gesichtsausdruck sehen sollen. Ich hab mich zuerst gewundert, aber es ist eigentlich ganz klar.“

Hester war wie vom Donner gerührt. Ella hatte Recht; sie musste zu Philip. „Würdest du mich hinfahren, Steven?“ bat sie. 

„Ich weiß zwar immer noch nicht, worum es geht,“ antwortete Ellas Verlobter. „Aber ich fahre dich natürlich hin.“ 

Nur zwei Stunden später erreichten sie Philips Haus, doch auf Hesters Klingeln hin blieb alles ruhig. Vielleicht war er noch anderswo hingefahren. Was sollte sie tun? Wieder wegfahren, wieder riskieren, dass sie ihn nicht sah und dass ein Missverständnis wieder nicht geklärt wurde. Sie würde bleiben; im Garten gab es eine kleine Bank und sie hatte ihren Mantel an. Im Auto lag noch eine Decke….Ja, sie würde warten.

„Könnt ihr mir einen Gefallen tun?“ bat Hester Ella und Steven. „Ich würde gerne auf ihn warten; vielleicht könnt ihr…im Städtchen unten gibt es einen kleinen Landgasthof, und wenn ihr dort ….Ihr könntet mich abholen, bevor es dunkel wird. Das sind noch mindestens drei Stunden. Wenn er bis dahin nicht zurück ist….“ 

Kurze Zeit später fuhren Ella und Steven die Straße in das kleine Städtchen hinunter. Hester saß auf der Bank und hatte die Decke um sich geschlungen. Es war kein Winter mehr; der Frühling schickte schon seine ersten Boten aus und kleine blaue und gelbe Blumenköpfchen streckten sich aus der Erde. Die Luft war wunderbar und die Erde duftete, aber die sonne wärmte noch nicht richtig und allmählich merkte Hester, wie ihre Zehen kalt wurden. 

Ich kann nicht ins Haus zurück! Philip war niemand, der seine Frustration laut herausschrie. Matt hatte ihm mehr als einmal gesagt, dass er viel zu wenig über seine Gefühle redete, aber er konnte nicht über seinen Schatten springen. An der kleinen Schlucht in der Nähe des Hauses zu stehen und hinunterzuschauen auf den Wald und den kleinen Fluss, auf die Hecken und Wiesen, half ihm eher. Wenn er diese Dinge sah, wurde ihm wieder bewusst, was er hatte und wie dankbar er sein konnte. Noch vor wenigen Monaten war er ein Mann gewesen, der im Rollstuhl saß und sich langsam aber sicher zu Tode zu trinken drohte. Philip atmete tief durch. Es wurde jetzt wirklich Zeit, dass er sich von den Träumen verabschiedete; er würde den Gedichtband verbrennen. Noch eine halbe Stunde, dann würde die Sonne untergehen; Philip machte sich auf den Weg nach Hause. 

Es hatte wohl keinen Zweck mehr. Philip schien nicht zu kommen oder vielleicht hatte Ella sich doch getäuscht; aber sie war so sicher gewesen. Sie stand auf und ging den kleinen gewundenen Gartenweg nach vorne. Wahrscheinlich würden Steve und Ella bald kommen. Da, sie hörte Autogeräusch, da waren sie schon. – Nein, das war Philips Auto, er war zurückgekommen.  

Hester? Was wollte Hester hier? Sie hatte eine Decke um sich geschlungen und musste wohl schon eine Weile warten; er sah auch kein Auto… Philip stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen, während Hester näher kam. Er sah sofort, dass sie vor Kälte zitterte. „Komm schnell ins Haus,“ sagte er und schloss die Tür auf.  Er führte sie in das kleine Wohnzimmer und legte ein paar Scheite in den Kamin, während sie sich auf das Sofa setzte.

Bis jetzt hatte sie noch kein Wort gesprochen. Die Flammen flackerten auf, aber es würde noch eine Weile dauern, bis es warm würde. Hester hatte die Decke immer noch um und hatte auch ihren Mantel noch nicht ausgezogen, aber langsam kehrte die Farbe wieder in ihr Gesicht zurück. Philip legte noch einen Scheit auf und drehte sich dann wieder zu Hester um.  Völlig ohne Einleitung fragte sie, „Warst du das heute Nachmittag im Café?“ 

„Ja, das war ich,“ sagte er langsam. „Aber ich hätte wohl gestört. Ich darf wohl gratulieren, oder?“ 

Ella hatte Recht gehabt! Er war eifersüchtig! Philips Lippen waren zusammengepresst und seine Stimme tonlos. Hester schaute Philip unverwandt an und fuhr fort, „Du könntest gratulieren, wenn du die Braut kennen würdest, meine beste Freundin Ella.“ 

Mehrere Sekunden vergingen, bis Philip begriff, nicht Hester, sondern ihre Freundin… Er schluckte. „Du bist nicht… du hast keinen…Freund?“ 

„Nein, ich habe keinen Freund…“ 

„Hester,“ sagte Philip heiser und kam näher. Sie stand langsam auf und ließ die Decke achtlos auf den Boden gleiten. Dann stand er vor ihr und schaute sie an, schaute ihr in die Augen. „Willst du nicht…?“ Doch bevor er aussprechen konnte, fing sie an ihren Mantel aufzuknöpfen; auch er fiel auf den Boden. „Philip!“ Tränen waren in Hesters Augen und liefen ihre Wangen hinunter; Philip wischte sie zärtlich mit den Fingerspitzen weg.

Er umfasste sie und atmete den Duft ihrer Haare ein. „Hester, du weißt nicht, wie ich mich danach gesehnt habe dich in meinem Armen zu halten. Ich hatte dir einen Brief geschrieben, den du aber nie bekommen hast. Ich wollte dich treffen und dachte, du wolltest mich nicht sehen. …Hester!.... Du bist immer noch eiskalt,“ flüsterte er, als er sie umfing.  „Dann wärme mich, Philip, wärme mich.“ Er küsste sie und fühlte ihre Lippen, diesmal keine Erscheinung aus der Zukunft, keine Möglichkeit, sondern Wirklichkeit, die er nicht mehr loslassen würde. Die beiden hörten nicht das Geräusch eines Autos, das vorfuhr, eine Weile wartete und sich dann wieder entfernte und es wäre ihnen auch wohl gleichgültig gewesen, dass Steven und Ella sie im hell erleuchteten Wohnzimmer eng umschlungen stehen sahen. Sie waren in ihrer eigenen Welt angelangt. Es schien wie eine Ewigkeit und doch zu kurz, als sich Hester und Philip voneinander lösten. Er schaute ihr in die Augen und wusste, er wollte keine Zeit mehr verlieren. 

„Heirate mich, Hester,“ flüsterte er und sie nickte und küsste ihn. Worte waren unnötig. 

 

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