Dezember in Yorkshire by doris anglophil
Summary:

 

Hoch im Norden Englands, in Yorkshire... wir schreiben das Jahr 1473.


Categories: Freie Werke, Short Stories Characters: Keine
Genres: Realfiction
Warnings: Realfiction
Challenges: Keine
Series: Keine
Chapters: 5 Completed: Ja Word count: 7488 Read: 13564 Published: 24 Dec 2015 Updated: 31 Dec 2015
Story Notes:

 

Es geht nicht direkt um Weihnachten, weil das damals, zur Zeit besagter Geschichte, so noch nicht gefeiert wurde wie wir es heute kennen. Es gab keine Weihnachtsbäume, es gab auch keine Geschenke, aber es gab festliche Bankette, Musik und Tanz, oftmals auch Theatervorführungen. Deswegen spielt sich vieles, was ich beschreibe auch vorher ab, vor allem am Sankt Nikolaus-Tag, denn die Feste der Heiligen waren damals sehr, sehr wichtig und wurden immer irgendwie begangen/gefeiert. Hier erzähle ich die Geschichte, wie sagenhafte Juwelen bzw. ähnlich geartete Schätze, die auf Burg Middleham in Yorkshire gefunden wurde, dorthin kamen. Natürlich spielt das alles im 15. Jahrhundert... und dann ahnt ihr sicher schon, auf was es letztendlich hinausläuft.  
Es handelt sich um fünf Kapitel, also eine Short Story, die nun jeweils täglich gepostet werden!

Ich wünsche allen auf diese Weise gesegnete Festtage.

© 2015 Doris Schneider-Coutandin

 

 

1. Kapitel 1 by doris anglophil

2. Kapitel 2 by doris anglophil

3. Kapitel 3 by doris anglophil

4. Kapitel 4 by doris anglophil

5. Kapitel 5 by doris anglophil

Kapitel 1 by doris anglophil

 

Raureif kam zur Nacht; fast gläsern
Wirkt im Lichte welker Farn,
Lautlos riss auf Laub und Gräsern
Reifen Herbstes rotes Garn.

Wo an Sommertagen blitzte
Klaren Taues Silberschein
Am erblühten Morgen, ritzte
Erster Frost sein Zeichen ein.

Schnitt je tiefer seine Klinge,
War sein Mal seit je so weiß,
Trägt der Kälte weiße Schwinge
Nur verderbliches Geheiß?

Mit des Alters Demut neigen
Krumme Ebereschen sich
Ihrem Schatten zu und schweigen,
Schweigen, schweigen winterlich...

Wind kommt auf; die losen Reste
Ihres Laubes er verweht,
Haucht im Labyrinth der Äste
Ein verlorenes Gebet.

(Erster Frost, Uwe Nolte)

6. Dezember 1473

Mit gesenktem Kopf wegen des scharfen Nordost-Winds, lenkte der Reiter mit geübter Hand sein Pferd über das zugefrorene Feld. Trotzdem er der Witterung entsprechend angezogen war, pfiff der eisige Wind durch die vielen Stofflagen und die Fasern der groben Wolle hindurch bis auf des Reiters Knochen. Er fror nun erbärmlich und sehnte sich nach seinem Heim, den mollig-warmen Feuerstellen in dessen Mauern, und auch nach einem Becher heißen Weins, besser noch etwas Stärkeres wie ein Brand. Mit zusammengekniffenen Augen, weil diese bereits tränten, hielt der Mann auf dem Pferderücken Ausschau, um seinen Weg ausmachen zu können und nicht im Halbdunkel, da der Abend mit Macht übers Land hereinbrach, noch von seinem Pfad abzukommen. Das wäre unschön, wenngleich recht unwahrscheinlich, da der geschickte und sichere Reiter jeden Stein in dieser Gegend bestens kannte. Sein Reittier, beileibe kein plumper Ackergaul, sondern ganz klar ein Ross edleren Geblüts, war trittsicher und gehorchte sowohl Stimme als auch jedem noch so kleinen Schenkeldruck seines Reiters sofort. Es lag Schnee in der Luft, sobald sich die Wolken in der Nacht verdichten würden, würden aus ihnen große, dicke, weiße Flocken zur Erde fallen und diese mit einer pudrigen Schicht, mitunter auch mit einer ordentlichen Decke von Schnee überziehen. Seit Tagen schon waren Baum und Strauch von Raureif überzogen gewesen, doch nun würde Schnee der ohnehin schon verzauberten Landschaft noch mehr an weißer Farbe verleihen. 

In der Ferne vor sich sah er die Lichter eines Gehöfts aufblitzen, wahrscheinlich Tran-Lichter, gefasst in Stall-Laternen, die vor dem kleinen Anwesen im Wind heftig hin und her schaukelten. Er wusste genau, wessen Hof das war, er kannte fast jeden Mann, jede Frau und jedes Kind dieser Gegend, egal ob in unmittelbarer Nachbarschaft oder etwas weiter entfernt gelegen, persönlich und mit Namen.

Als er zielstrebig auf das Licht zuritt, fasste er den Entschluss, kurz am Gehöft Rast zu machen, auch wenn er es nicht mehr sehr weit nach Haus hatte, so war er doch froh, sich kurz aufwärmen zu können; und waren die Stube und der Herd auch noch so einfach, das machte ihm nicht das Geringste aus.

Vor der geduckten Bauernkate, teils aus grauen Bruchsteinen, teils aus Holz errichtet und mit Reet und Moos gedeckt, saß er erleichtert ab und führte als erstes das Pferd in den Stall, vor welchem eine der Laternen, die er zuvor aus einiger Entfernung gesehen hatte, hing. Dort band er das Tier an, damit es mit Ziege oder Kuh keinen Aufruhr gab und marschierte stracks zum winzig kleinen Haus, vor dessen Tür die zweite Laterne baumelte.

Er streifte seine Handschuhe ab, die ledernen zuerst, dann auch die wollenen, die sich darunter verbargen, und klopfte mit entblößten Fingern an die leicht morsche Tür.

„Wer da zu solch später Stund‘, bei Wind und Wetter?"

„Herr Nachbar, lasst mich ein, bevor ich erfriere, wenn's beliebt."

Er hörte Schritte hinter der Tür, die sich nun einen Spalt öffnete und erblickte das Licht einer Fackel aus Kienspan.

„Wer...", die Worte des Bauern erstarben auf seinen Lippen, als er eine vage Ahnung ihn ergriff, wer sein einsamer Gast war.

„Sei so gut und lass mich ein, es soll nur für ein kleines Weilchen sein, weil mir wirklich furchtbar kalt ist."

„Ihr... Ihr seid wohl kaum zu Fuß da, oder?"

„Nein, ich kam zu Pferd und habe es bereits in deinem Stall untergebracht, so's denn recht ist."

„Wie könnte es mir nicht recht sein? Tretet ein, rasch, damit die Kälte nicht ins Haus zieht."

Mit diesen Worten öffnete sich die Tür kurz ganz und schloss sich ebenso schnell hinter dem Reisenden wieder.

„Folgt mir ans Feuer, Euer Gnaden."

„Bitte nicht, ich habe nur als Reisender an deine Tür geklopft. Du kennst meinen Namen, so wie ich deinen kenne, Albin of Gollinglith (nicht im Sinne eines ‚Albin von Gollinglith‘, gemeint ist hier viel mehr ‚Albin aus Gollinglith‘)."

„Ganz wie Ihr wünscht, oh Herr."

Der nicht sehr große, nicht sehr schwere Mann legte lachend seinen Wollumhang ab und streifte die Gugel aus grauem Filz von seinem Kopf, wodurch sein braunes, halblanges Haar sichtbar wurde. Seine blau-grauen Augen, in denen trotz der nachwirkenden Kälte nun der Schalk blitzte, hefteten sich auf seinen Gastgeber.

„Der Herr ist unser Vater im Himmel, oder etwa nicht?"

„Na... natürlich", stammelte der verunsicherte Bauer aus Gollinglith, einem schroffen Landstrich südlich von Middleham.

„Ich freue mich, dass du darin mit mir übereinstimmst. Das Wort ‚Herr‘ mir gegenüber möchte ich also nicht hören."

Dem Bauern schien es ratsam, in dieser Frage nicht weiter mit seinem Gast zu diskutieren und so nickte er ergeben. Er hatte schon viel von dessen Freundlichkeit,  Fürsorge und Menschlichkeit gehört, allesamt Eigenschaften des hier vor ihm stehenden noblen und mächtigen Lords of the North, doch an eigenem Leib erfahren hatte er diese Eigenschaften noch nie, bis zum heutigen Abend, von einer persönlichen Begegnung wie dieser ganz zu schweigen.

„Da... dann darf es ein Becher warme Milch sein, Euer Gna... ähm... Master Dickon?"

„Sehr gern - und wie du siehst, sitzt dein Kopf noch auf dem Hals, was davon zeugt, dass du nun den rechten Umgangston gefunden hast und es mir unter den gegebenen Umständen nur recht ist, als einfacher Reisender behandelt zu werden. Ich", und nun beugte er sich zu dem ihn immer noch ungläubig anstarrenden Albin hin, „bin nämlich einer von euch, nicht mehr und nicht weniger."

Er  nahm die ihm angebotene Milch mit einem dankbaren Lächeln an und trank in kleinen Schlucken davon.

„Sehr gut, Albin, danke."

„Es freut mich, dass es Euch... dir schmeckt, Dickon."

Ganz glatt kam dem Bauern die Anrede weiterhin nicht von den Lippen, zu ungewohnt war die Situation für ihn.

„Hast du denn Frau und Kind?"

Ein Nicken war die Antwort.

„Wo sind sie aber dann?"

„Bei der Schwester meiner Frau, die im Kindbett liegt."

„Ah, eine freudige Nachricht. Seitdem ich im Sommer selbst Vater - wenn auch nicht zum ersten Mal, so doch zum ersten Mal im Ehestand - geworden bin, weiß ich ein schreiendes Bündel in der Wiege sehr zu schätzen."

„Na, du wirst doch nicht sagen wollen, dass dein trautes Weib und du keine Kinderfrau beschäftigt und du selbst nach deinem Kindlein siehst? Ein Mann deiner Herkunft, der Bruder des Königs?"

Der Dickon genannte Mann, der natürlich niemand geringerer als Richard Plantagenet, Duke of Gloucester war, stellte den leeren Becher auf den wackeligen Holztisch und wischte sich ganz unkompliziert mit dem Handrücken den Milchbart von der Oberlippe.

Dann erwiderte er: „Doch, unser Sohn Edward hat eine Amme, eine Kinderfrau. Er... er ist ein sehr kleines, zartes Kind, musst du wissen und von ebensolcher Gestalt ist meine Frau Anne. Dennoch bin ich bei ihm an der Wiege, so oft ich nur kann. Er ist wie ein Wunder für mich."

„Das verstehe ich. Alle Kinder sind ein Geschenk des Himmels, nicht wahr?"

„Ja, das stimmt. Albin, ich muss weiter, es ist noch etwa eine Stunde Ritt durch die Kälte bis Middleham. Was schulde ich dir für die Milch?"
„Wir sind Nordvolk, du, ich... und wir schulden einander nichts."

„Das hast du trefflich ausgedrückt. Ich sehe aber auch, dass du arm bist. Willst du meine Münze nicht nehmen, was ich verstehe, weil du kein Almosen haben möchtest, so nimm denn mein Wohlwollen. Solltest du jemals meine Hilfe brauchen, sende nach mir, ja?"

„Das will ich tun, my Lo... Dickon."

Er geleitete seinen hohen Gast zur Tür, der sich währenddessen Gugel und Handschuhe anzog, und als er diese öffnete, stiebten mit einem Wirbelwind die ersten zarten Schneeflocken über die Schwelle der Kate. Der Bauer blickte besorgt gen Himmel.

„Eile, Dickon, bevor's zu einem schlimmen Schneesturm wird. Behüt‘ dich Gott."

„Und Gott auch mit dir, Albin. Gute Nacht."

Mit diesen Worten schlang sich der Bruder des englischen Königs seinen Wollumhang um den Körper und strebte dem Stall zu, wo er sein Pferd losband, aufsaß und leidlich aufgewärmt im ersten Schneegestöber des kommenden Winters davonritt.

Auf Middleham Castle lief Anne, Duchess of Gloucester, unruhig hin und her. Jetzt hatte auch noch Schneefall eingesetzt und Richard war noch immer draußen unterwegs. Sie hoffte einerseits, dass er schlau sein und für die Nacht Unterschlupf suchen würde, andererseits hoffte sie aber auch, dass er binnen kürzester Zeit in den Burghof einreiten würde.

Sie drehte sich vom Fenster, durch dessen beschlagene Scheiben sie dem Schneetreiben zugesehen hatte, zum besten Freund ihres Gemahls und klagte ihm ihr Leid.

„Francis, wie konntest du ihn nur allein reiten lassen? Warum hat er sich nicht wenigstens einen Burschen mitgenommen? Einen Jäger, oder, wenn er das halt nicht wollte, einen Reitknecht oder Knappen?"

„Er hat es so verfügt. Er hat sicher nicht damit gerechnet, dass es heute schon zu schneien anfängt. Außerdem wollte er niemanden der Kälte aussetzen, auf dass keiner Husten oder Fieber bekomme."

„Sehr fürsorglich von ihm. An sich selbst denkt er wieder nicht. Was ist, wenn er vor lauter Unterkühlung krank wird? Er wird dann den ganzen Winter über husten und prusten und darüber jammern."

„Dickon jammert, wenn er einen Nasenkatarrh hat? Das wusste ich ja gar nicht. Er ist doch auch nicht zimperlich, wenn sein Rücken ihn schmerzt oder er in einer Schlacht verwundet wird. Das trägt er immer tapfer und ohne zu klagen."

Anne lachte kurz auf.

„Natürlich. Das ist ja auch um ein Vnielfaches heroischer, als mit einer Triefnase, einem Bello, der in direkten Wettbewerb zu den Burghunden tritt, und lebensgefährlich hohem Fieber wie ein kleines Kind ans Bett gefesselt zu sein. Jammerst du etwa nicht über einen derartigen ach so beklagenswerten Zustand?"

„Ich? Niema... ähm... manchmal... ein klein wenig."

„Aha. Männer! Sie verbluten lieberund ohne mit der Wimper zu zucken in einem kriegerischen Gemetzel, aber kommt es zu ein bisschen Schiefen und Schnaufen, ist das für sie nicht zum Aushalten. Ich möchte nicht wissen, was los wäre, wenn ihr die Kinder bekommen müsstet. Die Welt wäre bald entvölkert, weil das keiner von euch ein zweites Mal aushalten würde."

„Tja, Anne, was soll ich sagen: das hat der Herrgott schon alles vollkommen richtig eingerichtet."

„Es war mir klar, dass du das nun sagen würdest, lieber Francis."

Francis Lovell horchte auf, allerdings nicht nur wegen der Worte der Duchess of Gloucester.

„Und ich höre gerade Hufgetrappel und denke, der Burgherr ist in seinem Heim angekommen."

„Gepriesen sei der Herr!"

 

Kapitel 2 by doris anglophil
Author's Notes:

 

Wie angekündigt, geht es heute mit Kapitel 2 weiter. Wir bekommen es hier zum ersten Mal mit schottischem Whisky zu tun, der damals gerade in seinen Anfängen steckte und den man entweder gälisch uisge beatha oder eben übersetzt Aqua Vitae (Eau de Vie, Lebenswasser, wie Brände heute noch in etlichen Ländern betitelt werden) nannte. Nimmt man das gälische Wort, verkürzt es und spricht es etwas schnodderig aus, hat man - voilà - Whisky! 
Außerdem geht es um einen solar genannten Raum, der sich im privaten Teil einer solchen mittelalterlichen Anlage befand, quasi der private Salon oder das heutige Wohnzimmer. Was die etwas unterkühlte Atmosphäre zwischen dem Duke of Gloucester und seiner Schwiegermutter, der Dowager Countess of Warwick, betrifft, so habe ich diese zu erläutern versucht, es ist aber kein historischer Roman, bei welchem man mehr ins Detail gehen könnte, sondern eine weihnachtliche Kurzgeschichte.
Alle erwähnten Orte sind übrigens real existierend, wenngleich hier oft mit dem damals gültigen Namen versehen, auch das schon aus Kapitel 1 bekannte Gollinglith.

 

Geborgenheit, eine feste Burg
und wir inmitten, sicher, warm;
das ist es, weshalb Jesus,
der dies uns schenken möchte, kam.

(Geborgenheit, eine feste Burg, Arne Baier)

Während Franics und Anne über die Treppe und den Rittersaal nach draußen eilten, erteilte die Duchess im Vorübergehen einer Magd Befehle: „Bertha, du kannst deinem Mann sagen, dass er nun das heiße Wasser fürs Bad bringen soll. Vielleicht auch diesen Brand von der schottischen Grenze, Aqua Vitae, einmal zum Trinken und einmal als Zusatz fürs Badewasser, das wärmt, habe ich mir sagen lassen. Francis, ich meine natürlich Lord Lovell, wird es bestätigen, obwohl er dieses Aqua Vitae wohl mehr trinkt denn darinnen badet. Und reiche mir meinen Umhang, schnell bitte!"

Sie bekam einen schweren Filzumhang gereicht, den sie sich im Gehen überwarf, während Francis Lovell sich in ebensolcher Hast ein grob gestricktes Tuch um Hals und Kopf schlang. Als die beiden nach draußen traten, stülpte er Anne eine Mütze aus Fuchsfell über, denn das dünne Tuch, das ihr Haar bedeckte, bot kaum Schutz gegen den massiven Schneefall.

„Dem Himmel sei Dank, Richard, dass du da bist."

Dieser kam ihnen schon ohne sein Ross entgegen, das er kurz zuvor einem Stallburschen überlassen hatte.

„Ich fühle mich wie ein Eiszapfen."

„Du schaust mehr nach einem Schneemann aus, wenn ich ehrlich bin. Willkommen zu Hause, Dickon", begrüßte ihn Francis und ließ eine kameradschaftliche Umarmung folgen, bei der ein Teil des Schnees, der den Ankömmling bedeckte, abfiel und zu Boden rieselte.

Richard wandte sich seiner Frau zu, ergriff ihre Hände, küsste diese nacheinander und hauchte auch einen eisigen Willkommenskuss auf ihre Stirn.

„Es tut gut, zu Hause zu sein. Ich nehme an, ihr habt ein Bad für mich richten lassen?"

„Natürlich. Ein heißes Bad, eine warme Mahlzeit...",

„... und Aqua Vitae", ergänzte Francis mit schelmischem Grinsen.

„Danke, doch nun schnell ins Haus, meine Lieben."

Sie nahmen nun zu dritt den gleichen Weg zurück, durch die große Halle, die als Rittersaal diente, die Stiege hinauf in die privaten Gemächer, die mehr Intimität und Komfort verbreiteten als die vielseitig genutzten Säle im unteren Teil des Palas.

„Wie geht es Edward?"

„Gut, er schläft schon."

„Kann ich ihn sehen?"

„Jetzt gleich?"

„Nach einem ersten wärmenden Schluck des schottischen Brands, warum nicht?"

„Dann rasch."

Richard nippte an dem ihm gereichten Zinnbecher mit dem auf Gälisch auch uisge beatha genannten Destillat aus vermalztem Getreide.

Er verzog kurz das Gesicht, weil der Brand scharf durch seine Kehle rann, doch dann begann sich sofort ein wohliges Gefühl in seinen Eingeweiden breit zu machen.

„Die Schotten können nicht viel, aber das hier gereicht ihnen zum Lob, wirklich."

Während Francis den Weg in den solar genannten Raum nahm, der der Familie und engsten Freunden vorbehalten war und in dem sich - im Gegensatz zur großen Halle - so gut wie kein öffentliches Leben abspielte, gingen Anne und Richard weiter zu den Schlafgemächern. Dort schlummerte der fünf Monate alte Edward in seiner Wiege, bei der zwei Frauen saßen, die eine drall und jung, offensichtlich die Amme des Kleinen, die andere hager und älter - die Dowager Countess of Warwick, Mutter von Duchess Anne.

„Meine verehrte Lady Mutter, wie schön Euch an der Wiege Eures Enkels zu sehen."

„Guten Abend, my Lord Gloucester. Wo sollte ich auch sonst sein, da ich in Eurem Haus ein wahrlich einsames Dasein friste, nachdem Ihr mich für tot habt erklären lassen, um an die großen Warwick- und Beauchamps-Ländereien zu gelangen."

„Madame, das geschah aus sehr genauen Überlegungen heraus, wie ich Euch schon oft versicherte, und niemals zu Eurem Nachteil."

„Ja, es ist das wohl geringste Übel unter denen, die mich heimsuchten. Bei Eurem Bruder George wäre ich wohl nicht nur für tot erklärt, sondern sicherlich auch wahrhaftig und eigenhändig von ihm umgebracht worden. Ich bin Euch also in gewisser Weise sogar noch zu Dank verpflichtet."

„Ihr habt keinen Grund, so verbittert zu reden, Madame."

„Womöglich habt Ihr recht, my Lord, und doch fühle ich mich irgendwie unwillkommen und lediglich geduldet."

„Ihr redet Unfug, glaubt mir. Wir sind Euch sehr zugetan und spürt Ihr das nicht, so ist es Euer Fehler ganz allein. Doch lassen wir das nun, ich möchte nicht am Tag des Heiligen Nikolaus, Schutzpatron der Seeleute, der Eheleute, der Kinder und Überbringer von unerwarteten Geschenken, mit Euch in Streit geraten. Stattdessen halte ich es lieber mit Sankt Nikolaus und schenke etwas."

Er wandte sein Gesicht Anne zu, das sich dabei deutlich aufhellte, und fuhr fort: „Das ist auch der Grund, weswegen ich unbedingt noch heute nach Middleham zurückkehren wollte, denn ich habe in sceap town (= Skipton) ein paar Kleinigkeiten erstanden, die ich euch nachher, sobald ich mich im heißen Bad aufgewärmt habe, gern überreichen möchte. Edward bekommt sein Geschenk natürlich gleich, auch wenn er schon schläft wie ein Engelchen."

Richard zog aus einer ledernen Tasche, die er am Sattel mitgeführt hatte, ein Lammfell allererster Güte heraus und packte es in die Wiege seines Sohnes.

„Damit er es immer warm diesen Winter hat. sceap town ist schließlich berühmt für seine herrlichen Schafherden. Und nun das Bad!"

Im warmen Wasser liegend, dem ein Becher des gebrannten Aqua Vitae zugefügt war, weswegen Richards durchgefrorener Körper sehr schnell an Wärme gewann,  betrieb er Konversation mit Anne, die in der Nähe saß und diese stille Zweisamkeit sehr genoss, denn der Duke of Gloucester hatte seinen Leibdiener nach den ersten Handreichungen entlassen und lag nun mit zurückgelehntem Oberkörper und triefend-nassen Haaren, die bereits gewaschen waren, in dem hölzernen Zuber.

„Ich finde diese Ruhe hier in Middleham, in Yorkshire einfach wundervoll. Edward bittet uns in einem Brief, die Weihnachtstage mit ihm und der höfischen Gesellschaft im Palast von Westminster zu verbringen, aber das liegt mir einfach nicht, es sei denn, du, liebe Anne, möchtest unbedingt an den Hof seiner königlichen Gnaden, meines Bruders."

„Ich? Um Himmels willen, was wollte ich da? Wir haben den kleinen Edward, nicht einmal ein halbes Jahr alt, und ich werde den Teufel tun und ihn durch Eis und Schnee nach London zu bringen, nur um irgendwelchen Mummenschanz zu treiben."

„Würdest du nicht gern George und Isabel zu den Festtagen sehen wollen?"

„Das schon, vor allem Isi, aber allein deswegen unternehme ich die Reise wahrlich nicht. Sollte sie mich sehen wollen, kann sie gern nach Middleham kommen oder wir statten ihnen nach den Frösten einen Besuch auf Warwick Castle ab."

„Vergiss nicht, dass die kleine Meg im August erst geboren wurde, also noch jünger als unser Edward ist. Aber es scheint ihnen nichts auszumachen, mit dem Kindlein nach London zu reisen."

„Es ist auch nicht so weit wie von hier aus. Außerdem ist George in der Hinsicht ziemlich rücksichtslos, wie du weißt."

Richard seufzte und ließ eine Hand durchs Wasser gleiten, was ein paar kleine Wellen erzeugte.

„Ja, er ist gierig nach Macht, Anerkennung und irdischen Gütern. Er bekommt seinen beschissenen Hals - verzeih den starken Ausdruck, bitte - nicht voll genug und ich fürchte, diese maßlose Gier wird ihn eines Tages um Kopf und Kragen bringen."

„Aber du schätzt ihn doch, oder?"

„Als meinen Bruder, ja, aber als Duke of Clarence, als Sohn des Hauses York, als hohen Lord, und als Familienvater nicht so sehr. Ich bedaure sagen zu müssen, dass mir Edward nähersteht."

„Obwohl du mit George darüber übereinstimmst, dass Edward sich von der Familie seiner Gemahlin auf der Nase herumtanzen lässt?"

„George denkt das nicht nur, er spricht es auch offen aus, was ich für einen Fehler halte. Edward hat ihm einmal schon den Verrat verziehen, ob er es hingegen ein zweites oder gar drittes Mal tut, wage ich zu bezweifeln. Er hat viel Geduld, aber wehe, wenn diese Geduld erschöpft ist. Dann kennt mein königlicher Bruder keine Gnade, auch seinem eigenen Blut gegenüber nicht. Er kann dann sehr plötzlich, beinahe wie aus heiterem Himmel, sehr hart und unnachgiebig werden. Es könnte äußerst unangenehme Folgen haben, wenn George sich nicht zurücknimmt. Ich hoffe also für ihn und für uns alle, dass er sich mehr auf seine familiären Pflichten besinnt und nunmehr seine schmierigen Finger von Intrigen und Verrat lässt."

„Dein Wort in Gottes Ohr, Richard. Also ist es beschlossen, dass wir den Winter hier in Yorkshire verbringen?"

„Oh ja. Ich liebe dieses Land und ich glaube, das Land liebt auch mich. Ich fühle mich hier frei und unter meines Gleichen."

Anne schmunzelte wissend.

„Verstehe. Hast du wieder mit den Schäfern von sceap town an einem Tisch gesessen,  mit ihnen gemeinsam gegessen und getrunken und dich von ihnen - recht unziemlich - mit deinem Kosenamen anreden lassen?"

Richard zuckte mit den Schultern, als ob er dies als Bagatelle abtun wollte.

„Mit ihnen und auch mit Bauer Albin of Gollinglith, dem ich vor zwei Stunden einen kurzen Besuch abgestattet habe. Ich möchte nicht, dass sie vor mir auf die Knie fallen, ihre einfache Herkunft verleugnen und ihre Zunge verdrehen, weil sie ständig ‚Euer Gnaden‘ stammeln müssen. Das ist wirklich Unfug."

„Ich finde es rührend, dass du so denkst, aber ich glaube auch, dass du - bei aller Liebe für die einfachen Leute hier - falsch liegst, wenn du versuchst, alle Unterschiede zwischen ihnen und dir mit einer Geste wegzuwischen und aufzuweichen. Die Unterschiede sind da, Dickon, auch wenn du sie noch so sehr zu verdrängen suchst."

Mit einem weiteren Seufzer erhob sich Richard aus dem Wasser und schlang ein leinenes Tuch um sich, das neben dem Badezuber bereit lag.

„Ja, auch das weiß ich. Aber manchmal wünschte ich, dem wäre nicht so."

Er schlüpfte in ein paar einfache Beinlinge, ein frisches Hemd, darüber zog er ein Doublet aus taubengrauem Samt, schloss die Schnallen desselbigen und stieg in seine Schuhe.

„Ich möchte dir, deiner Mutter und Francis noch ein Nikolausgeschenk machen, wollen wir hinüber zu ihnen gehen?"

Anne lachte und schüttelte leicht ihren Kopf.

„Eigentlich wäre es mir lieber, wir könnten gleich hier bleiben, doch ich schätze, das Zubettgehen wird noch ein Weilchen warten müssen."

„Das, meine liebe Anne, schätze ich auch. Aber wir holen es nach, denn ich wünsche mir kaum etwas so sehr wie ein Geschwisterchen für unseren Ned."

Er reichte ihr seine Hand, die sie freudig, wenn auch mit hochroten Wangen wegen der letzten zwischen ihnen gesprochenen Sätze, ergriff und so verließen sie die Intimität des Schlafgemachs und gingen über die Flure der großen Burg hinüber zum solar, wo sie bereits erwartet wurden.

Kapitel 3 by doris anglophil
Author's Notes:

 

In Kapitel 3 kommen wir zu den wertvolleren "Nikolausgeschenken", jedenfalls zu zwei von insgesamt dreien. Es wurden zwischen 1985 und 1990 verschiedene, nachweislich der Ära von Richard dem Dritten bzw. dem Duke of Gloucester zugeschriebene Artefarkte in Middleham Castle gefunden, von denen ich die wichtigsten in die Geschichte aufgenommen habe. Um das Haupt-Fundstück geht es dann in Kapitel 4. Heute begegnen wir einem kupfernen Beschlag, der sicher zu einer Schatulle gehörte und mit den Initialen "R und A" versehen ist. Von diesem runden Teil gibt es leider keine Fotos. Weiterhin ist ein Ring beschrieben, den man den "Middleham Ring" nennt und der unten im Text genauer umrissen wird. Über dessen Herkunft ist wenig bekannt, weswegen ich darüber eine eigene Theorie entwickelt habe. Dieser Ring ist hier zu sehen:

http://www.yorkmuseumstrust.org.uk/scripts/adlib_image.php?id=YORYM_1991_21.jpg&width=650&height=650

Es werden außerdem die beiden unehelichen Kinder Richards erwähnt (ein drittes, nicht offiziell von ihm anerkanntes existierte möglicherweise), denen er nachweislich sehr zugetan war.

 

Lieber heiliger Nikolaus,
komm doch heut in unser Haus,
Lehr uns an die Armen denken,
lass uns teilen und verschenken,
Zeig uns, wie man fröhlich gibt,
wie man hilft und wie man liebt.

(Lieber heiliger Nikolaus, Autor unbekannt)

Der Duke of Gloucester, gerade erst einundzwanzig Jahre alt und doch schon durch leidvolle Schicksalsschläge geprägt und daher recht lebenserfahren, war ein fürsorglicher Ehemann und Vater und ein guter, loyaler Freund; doch solche Loyalität erwartete er im Gegenzug auch von anderen, insbesondere von allen, die ihm nahestanden oder dienten.

Er war großzügig und freigiebig, sofern es ihm seine bescheidenen Mittel erlaubten. Zwar war er mit großem Land- und Grundbesitz gesegnet, doch aus diesen Besitztümern waren nur schwerlich größere Erträge zu erwirtschaften, so dass man einen Prinzen wie ihn kaum als vermögend oder gar reich bezeichnen konnte. Er schuldete nicht selten anderen Lords, die mehr klingende Münzen in ihren Beuteln hatten als er, einiges an Geld, wenngleich er bestrebt war, möglichst wenig Schulden zu machen und wenn, diese so schnell wie möglich wieder zu begleichen. Duchess Anne besaß in der Tat nur zwei Gewänder, die am Hof König Edwards bestehen konnten, und trug hier auf Middleham oftmals geflickte Kleider oder Gewänder aus einfachen Stoffen, die man wenigstens mit Borten, Pelz, Zierrat und Schmuck aufzuwerten versuchte. Sie beklagte sich darüber nicht, denn wichtiger als Tand waren ihr ein ruhiges Heim, ihr kleiner Sohn und ihr geliebter Richard. Damit war sie glücklich und zufrieden, denn das wog in ihren Augen mehr als jedweder Prunk, der ohnehin meist nichts anderes als Blendwerk war.

Nichtsdestotrotz nahm sie gern Richards Geschenke an, auch wenn sie ihn manchmal dafür schalt, weil er dafür sein knappes Geld ausgab. So harrte sie nun gespannt der Dinge, die da kommen würden.

Richard, dessen nun langsam trocknenden Haare sich auf seinen Schultern leicht kringelten und gegen den blassen Hintergrund des Samtes seines Doublets einen reizvollen Kontrast bildeten, ließ sich auch nicht lange bitten, denn es war schon spät und sie alle, ihn und Anne eingeschlossen, wollten in absehbarer Zeit zu Bett gehen.

Er blickte mit sichtlichem Vergnügen in die kleine, vor ihm versammelte Runde, räusperte sich kurz und sprach dann: „Edward wurde bereits von mir bedacht und ich weiß, dass in eurem Kopf der Gedanke kreist, dass es möglicherweise ungerecht ist, dieses Kind meinen anderen beiden vorzuziehen. Ihr drei hier, Mutter, Anne, Francis - dazu käme noch Robert, wäre er denn heute hier - kennt mich in- und auswendig und sicher wisst ihr, dass ich niemals jemanden bewusst bevorzugen oder benachteiligen würde. Meine Kinder John und Katherine erhalten ebenso Geschenke, ohne Frage. Das Einverständnis meiner lieben Anne vorausgesetzt, werde ich nämlich beide in Kürze hierher nach Middleham holen, damit sie gemeinsam mit Edward aufwachsen können und eine angemessene Erziehung erhalten, wie es sich für die Kinder eines Prinzen aus dem Haus York geziemt, denn ich finde, das sollte sich nicht nur auf die beschränken, die meine legitimen Erben sind. Sie sind schließlich alle mein Fleisch und Blut und werden dementsprechend behandelt. Ich hoffe, auch in eurem Sinn so entschieden zu haben. Und nun direkt zu euch, meine Lieben. Lady Mutter, Euch brachte ich eine Schatulle mit, in die Ihr alles, was Euch lieb und teuer ist, hineinlegen und verschließen könnt. Niemand möchte oder wird Euch Eures Schmucks berauben, dessen seid ein weiteres Mal versichert, und weil Euch mein Wort aus unerfindlichen Gründen anscheinend nicht reicht, lasse ich dieses Geschenk für sich sprechen. Ich hoffe, es wird Euch von Nutzen sein und Euer Misstrauen mir gegenüber, für das ich sogar ein gewisses Maß an Verständnis aufbringe, wenngleich es völlig ungerechtfertigt ist, schwinden lassen. Auf dass uns ein wenig mehr Frieden untereinander beschert sein mag."

Einer großen Packtasche, die sich hinten auf seinem Pferd befunden hatte, und die nun in Reichweite auf einer hölzernen Bank des Erkerfensters lag, entnahm Richard eine sehr kunstvoll gefertigte Schatulle aus fein poliertem Holz, die mit Kupfer beschlagen war, wovon das zentrale Stück rund gearbeitet war und die Initialen ‚R‘ und ‚A‘ zeigte.

„Ihr könnt es halten wie Ihr wollt, Madame, seht es entweder als die Initialen von Euch und Eurem Gatten selig an oder als die von Anne und mir, die wir Euer beider Namen tragen."

Mit diesen Worten überreichte er die kleine Truhe einer beschämt zu Boden blickenden Dowager Countess of Warwick, die zunächst nicht einmal ein Wort des Dankes hervorbrachte. Richard nahm es gelassen und ging nicht weiter darauf ein.

Erst als er sich Francis zuwenden wollte, ließ sie sich leise vernehmen: „Ihr beweist doch mehr Anstand als Euer Bruder Clarence, den ich nichts weiter als einen Idioten nennen kann".

„Das würde ich so nicht sagen. Ein Idiot ist er wohl nicht, er setzt nur leider immer aufs falsche Pferd, ist also mehr eine Spielernatur und ich fürchte, so wird er eines Tages auch enden - als jemand, der alles, wirklich alles restlos verspielt hat. Beten wir also zu Gott, dass ich mich diesbezüglich irre."

Der Blick denn Anne voller Dankbarkeit ihrem Ehemann zuwarf, sprach Bände. Francis, der Anne direkt im Blick hatte, fürchtete sogar, sie könne ihre nur noch mühsam aufrecht erhaltene Contenance verlieren, sich hier, vor den Augen Dritter, hemmungslos in seine Arme werfen und versucht sein, ihn zu küssen, was selbst in diesem engen Kreis einem Affront gleichkäme.

Richard lächelte seiner Schwiegermutter kurz zu, dann griff er in eine in sein Doublet eingenähte Tasche und drückte Francis Lovell ein sehr kleines, in einen rot-goldenen Brokatstoff gewickeltes flaches Päckchen in die Hand.

„Kein Aqua Vitae, wie du vielleicht gehofft hattest. Aber ich verspreche dir, dass wir alle Destillen und Brennereien aufsuchen und uns das Beste von dort aussuchen, sobald die Schotten es wagen werden, hier im Norden Unruhe zu stiften."

„Ganz ehrlich, Dickon? Ich glaube nicht, dass sie das tun würden, weil sie wissen, dass du hinter der Grenze auf einen solchen Fehler von ihnen lauerst und sie windelweich prügeln würdest, sollten sie einen falschen Schritt tun. Sie haben Angst vor dir. Es wird wohl also nichts daraus werden, ihre Brennereien zu plündern, wirklich schade."

Jetzt lachte Richard schallend: „Ach, eine so abschreckende Wirkung habe ich? Na gut, dann sehe ich halt zu, dass ich auf weniger kriegerischem Weg noch ein paar kleine Fässchen des uisge beatha heranschaffen kann. Ich werde demnächst ein paar Händler auf der Durchreise in Richtung Norden darum bitten. Doch nun öffne dein Geschenk, mein Freund."

Francis rollte den brokatenen Stoff aus und hielt unwillkürlich den Atem an, als er eines goldenen Rings ansichtig wurde, der außen ringsum zwölf Embleme zeigte, die dem Buchstaben ‚S" ähnelten und innen die Gravur soverenly aufwies. „Richard! Das kann ich nicht annehmen, er muss ein Vermögen gekostet haben."

„Ich verrate es nur ungern, aber ich habe nur die Gravur innen anfertigen lassen. Den Ring hatte ich bereits, er gehörte Edmund Beaufort, hingerichtet nach der Schlacht von Tewkesbury, deswegen die lancastrischen ‚S' auf der Außenseite. Der Ring soll uns beide mahnen auf ewig verbunden zu bleiben, niemals einander zu verraten und dir zu versichern, dass wir Brüder im Geiste sind. Ich nicht höher als du, du nicht niedriger als ich - soverenly, wir sind Lords. Und ich wählte mit Absicht ein lancastrisches Schmuckstück, weil es große Symbolkraft hat, dass es nun an einem yorkistischen Finger steckt."

„Oh Dickon, ich stehe auf ewig in deiner Schuld."

„Nicht in meiner Schuld, Francis, aber mir zur Seite."

Francis Lovell beugte in Demut und Ergriffenheit ein Knie vor dem Duke of Gloucester und senkte seine Stirn auf dessen Hände. Dann erhob er sich zögerlich und steckte sich den wertvollen Ring an einen Finger seiner Hand.

„Und nun zu Anne, ja?"

Annes Augen weiteten sich, denn wenn Richard derart großzügig aufgelegt war und solch wertvollen Geschenke machte, was erwartete dann sie?

Es war ihr peinlich, vor Francis und ihrer Mutter beschenkt zu werden, doch sie sagte nichts und schluckte nur, um den immer größer werdenden Kloß in ihrem Hals irgendwie loszuwerden. Ach, wären sie doch nach dem Bad Richards nur gleich im Schlafgemach geblieben. So aber war sie den Blicken der anderen beiden ausgesetzt und fühlte sich unbehaglich.

Richard ging zurück zur Packtasche, wobei es den anderen nicht entging, dass ein zufriedener Ausdruck auf seinem oftmals so ernst dreinschauenden Gesicht lag. Er hatte sehr feine, fast feminine Züge, auch war er kein großer Mann; im Vergleich zu ihm war sein Bruder Edward, der König, geradezu ein Riese. Richard litt seit seiner frühen Jugend, nunmehr etwa seit zehn Jahren, an einer Deformität des Rückgrats, etwas, das sich Griechisch skolios nannte. Es behinderte ihn jedoch nur wenig in der Ausübung seiner Pflichten, er konnte reiten, jagen und auch unfassbar gut kämpfen, wobei ihm da sein maßgefertigter Harnisch sehr half. Mit voller Bekleidung war sein Rückenproblem kaum erkennbar und nur wenige wussten überhaupt davon. Er hatte sich davon niemals beirren oder beeinträchtigen lassen und lebte - abgesehen von leichten Schmerzen dann und wann - das ganz normale Leben eines Ritters seiner Zeit.

„Anne, seit eben dieser Schlacht von Tewkesbury, als ich erleichtert feststellte, dass deine Ehe mit Edward of Lancaster nur auf dem Papier bestanden hatte, habe ich ohne Unterlass um unser Glück gekämpft und seit Sommer letzten Jahres können wir dieses Glück nun schon genießen. Hier, fernab vom Trubel des Hofes meines Bruders, in großer Ruhe und Abgeschiedenheit, vorläufig gekrönt von der Geburt unseres Sohnes. Ich möchte es gar nicht anders haben und hoffe, dir geht es ebenso; hoffentlich bist du hier genauso glücklich wie ich. Meine Liebe hast du, für immer, wie bei unserer Vermählung vor Gott bekräftigt. Ich weiß, dass viele - deine werte Lady Mutter eingeschlossen - denken, ich wäre auf dein Vermögen, dein Erbe, deine Ländereien aus gewesen, doch das ist nur übles Gerede, dem ich leider kaum etwas entgegenzusetzen habe. Wie hätte ich denn auch jemals das Gegenteil beweisen können? Die Situation setzt mich in ein denkbar schlechtes Licht, noch immer, und ich erfahre dies beinahe tagtäglich durch die ablehnende Haltung deiner Mutter. Ich nehme es hin, ertrage es, weil du es bist, der mir am Herzen liegt. Du und der kleine Edward. Das hier, liebe Anne, kann meine Gefühle zwar nicht annähernd ausdrücken, aber es kann dir vielleicht einen Teil meiner Wertschätzung zeigen."

Mit diesen Worten öffnete er seine schmale Hand und ein rautenförmiges, goldenes Schmuckstück, das fast seine gesamte Handfläche ausfüllte, kam zum Vorschein. Es war etwas, das weder die Countess of Warwick, noch Anne, noch Francis jemals gesehen hatten, ein Medaillon von absolut ungewöhnlicher Form und Machart, etwas, das nicht von dieser Welt zu sein schien. An der Spitze der Raute, die mit zahlreichen eingravierten Reliefs versehen war, prangte ein Saphir von unfassbarer Größe und Schönheit.

Kapitel 4 by doris anglophil
Author's Notes:

 

In diesem, dem vierten, Kapitel geht es zu Anfang um ein schier unglaubliches Juwel, das so genannte "Middleham Jewel", 1985 per Zufall durch einen Metalldetektor auf Middleham Castle gefunden. Das wundervolle Stück wurde vom Yorkshire Museum in York für sage und schreibe - festhalten! - 2,5 Mio. Pfund angekauft und noch heute dort ausgestellt. Mehr darüber sage ich nach dem Kapitel, weil ich erst einmal nicht spoilern möchte! 

 

Es ist mit Stern und Orden
Die Liebe beschenket worden;
Der Himmel selbst hing sie ihr an,
Weil sie sein getreuester Untertan!

Es ist mit Stern und Orden
Die Liebe beschenket worden,
Und hat sie Stern und Orden um,
So strahlt sie weit aus ihren Ruhm.

Es ist mit Stern und Orden
Die Liebe beschenket worden;
Der Stern der Liebe ist der Blick,
Den Liebe gibt der Liebe zurück;

Der Orden der Lieb' ist ausgehangen
Auf ihrer Stirn und ihren Wangen -
Er trägt die Farbe der Züchtigkeit,
Die Liebe verlangt und Liebe scheut;

Der Orden der Liebe glänzt und funkelt
Aus Augen von ersten Tränen umdunkelt,
Von den ersten Tränen, die Liebe weint,
Wenn Liebe sich mit Liebe vereint;

Der Orden der Liebe ziert und schmückt
Die Brust, die ein Herz ans Herz sich drückt;
Ein Herz voll Liebe ohn' allen Schein,
Das muss ihr köstlichster Orden sein;

Ein Herz am Herzen, und glühende Wangen
Und Augen, nass vor Scham und Verlangen,
Das sind die Orden, die die Lieb' hat um,
Die ihr Glück ausstrahlen und ihren Ruhm! -

(Orden der Liebe, Ludwig Halirsch)


Die Spannung im Raum war mit Händen greifbar. Keiner sagte ein Wort, alle starrten gebannt auf das prächtige Juwel in Richards Hand.

Schließlich ließ sich Anne mit zittriger Stimme vernehmen: „Wa... was ist das?"

„Ein Schmuckstück."

„Das sehe ich, Richard."

„Es birgt eine Reliquie im Inneren, und auf der Vorderseite wird die Kreuzigung eingraviert dargestellt, während auf der Rückseite die Geburt Jesu abgebildet ist."

„Du bist wahnsinnig. Es muss von unschätzbarem Wert sein und ich fürchte nun sehr, dass du dich dafür sehr verschuldet haben musst. Welch Irrsinn. Ich wäre mit weit weniger zufrieden gewesen; nein, ich wäre selbst mit gar nichts zufrieden gewesen, weil diese Beschenkung so überaus unerwartet geschah."

„Liebste Anne, es kam über Kaufleute aus Apulien, aus Bari hierher und es hat mich längst nicht so viel gekostet wie von euch allen vermutet. Man hat beim Angriff des türkischen Sultans auf Apulien vor einigen Jahren ein paar der bedeutsamsten Reliquien dieser Region gesichert und außer Landes bringen lassen. Dieses Juwel befand sich darunter, man hat es mir angeboten, weil man mich als gottesfürchtigen Mann kennt und weiß, dass der Knochensplitter des Heiligen Nikolaus hier in sicheren Händen sein wird. Deswegen war der Preis auch eher lächerlich zu nennen und Schulden zu machen war dafür nicht erforderlich."

Für alle setzte sich nun langsam ein inneres Bild der heutigen Vorgänge zusammen. Den Tag des Heiligen Nikolaus so herauszustellen, wie es Richard an diesem Abend getan hatte, machte jetzt endlich Sinn.

Zögerlich streckte Anne die Hand aus und berührte das goldene Kleinod.

„Heilige Mutter Gottes, Heiliger Nikolaus, gelobt sei Jesus Christus."

„In Ewigkeit, Amen", kam es vom Rest der Anwesenden.

„Aber du warst in sceap town und nicht in York, wo man Kaufleute aus dem Süden, aus Apulien sicher eher antrifft."

„Ja, das stimmt. Ich denke, dieses Reliquiar sollte zu uns kommen, Gott hat es so bestimmt, dessen bin ich sicher. Es war ein großer Zufall, dass der Kaufmann vor seiner Rückreise beträchtliche Mengen Wolle kaufen wollte und sich deswegen in sceap town befand."

„Und dieser Kaufmann kannte dich? Das klingt recht unwahrscheinlich, wie ich finde."

„Nein, aber es wurde ihm schnell von anderen klargemacht, wen er vor sich hatte und dass wir fromme, gütige und tiefgläubige Menschen sind, die ein hohes Ansehen in der Gegend genießen. Dies sollte mein Nachteil nicht sein und ich erhielt das Kleinod fast geschenkt."

„Es mutet beinahe wie ein Wunder an", sagte nun Francis.

„So kam es mir auch vor, mein Freund. Und wir müssen Gott dankbar dafür sein, dass er uns so reich bedacht hat. Seine Gnade ist unermesslich groß."

„Dem stimmen wir alle zu, Richard. Welch Glück und welche Freude, dass wir hier in Frieden und Dankbarkeit zusammenleben, was wir ganz gewiss der Gnade und Barmherzigkeit unseres Herrn im Himmel zu verdanken haben. Deswegen lasst uns alle vor dem Zubettgehen ein Dankesgebet sprechen. Ich würde mich nun gern zurückziehen, wenn ihr gestattet. Gute Nacht."

„Gute Nacht, Francis", kam es beinahe unisono von Richard und Anne, während die Countess of Warwick ein leises „angenehme Ruhe" murmelte, bevor auch sie sich erhob, um den solar zu verlassen. Sie nickte dem Mann ihrer Tochter kurz zu und küsste Anne auf die Schläfe.

„Schlaf gut."

„Ihr auch, Lady Mutter."

Zu Richard sagte sie nichts, doch dieser war darüber nicht überrascht. Sie hatten sich über die Streitigkeiten um das Warwick'sche Erbe merklich voneinander entfernt und sie hatte es ihm nicht verziehen, dass er seinem Bruder Edward näher stand als das Andenken des Earl of Warwick, seinen verstorbenen Ziehvater und Mentor, so hoch zu halten, dass es in ihrem Sinne gewesen wäre. Natürlich hegte sie gegenüber George, dem Duke of Clarence, ihrem anderen Schwiegersohn, ein noch größeren Groll, doch an Richard konnte sie ihren Unmut tagtäglich auslassen, denn mit ihm lebte sie unter einem Dach, während sie George und Isabel kaum sah. Sie hielt jedoch als sie ging die Schatulle, die sie zuvor von Richard erhalten hatte, fest unter ihren Arm geklemmt, was ihm ein schwaches Schmunzeln ins Gesicht zauberte, das sie allerdings nicht bemerkte, da sie ihm da bereits den Rücken zugekehrt hatte.

Als sich die Tür hinter der Countess of Warwick geschlossen hatten, ließ sich Anne vernehmen: „Sie wird dir verzeihen, es ist nur noch eine Frage der Zeit."

Richard lachte auf, doch es mischte sich eine leichte Bitterkeit in sein Lachen.

„Ach, Anne, ich habe ja gar nichts Schlimmes getan, außer dich so sehr zu lieben, dass ich dich unbedingt heiraten wollte."

„Sie glaubt noch immer, dass es wegen des Erbes war."

„Ja, ich weiß. Ich bete oft für sie, für ihre verirrte und verwirrte Seele. Sie scheint all das vergessen zu haben, was wir lange Jahre hier auf Middleham miteinander erlebt und geteilt haben. Sie scheint vergessen zu haben, dass es damals schon für mich feststand, dass meine Ehefrau nur eine sein würde: du!"

„Ich habe noch nie einen Mann wie dich gekannt, so voller Bestimmtheit, niemals seinen vorgezeichneten Pfad verlassend und allen gegenüber höchst loyal."

Nun lachte er wieder, diesmal aber deutlich gelöster.

„Ich würde dir wirklich ein paar sehr bohrende Fragen stellen müssen, würdest du dich der näheren Bekanntschaft noch anderer Männer meines Alters rühmen."

„Du vergisst, dass ich schon einmal verheiratet war."

Richards Lachen erstarb auf diesen Satz hin, jedoch sprühten seine Augen weiterhin amüsierte Funken.

„Dieser... dieser Kerl, vermutlich selbst nicht einmal den Lenden von Mad Harry entsprungen,  wusste das Juwel nicht zu schätzen, das ihm vor die Füße gelegt wurde und ich bin froh darüber. Ich bete jeden Tag voller Freude zu Gott, um ihm dafür zu danken, dass Edward of Lancaster es nicht gewagt hat, dich anzurühren."

„Er hatte weder die Zeit noch die Kenntnis dafür."

„Armer Tropf, seine Mutter hätte ihn auf ein paar wichtige Dinge des Lebens besser vorbereiten sollen. Tja, was soll ich noch sagen, außer: ich habe sowohl Zeit als auch Kenntnis, Madame! Zu Bett nun!"

 

End Notes:

 

Zurück zum Middleham Jewel, das aus beidseitig graviertem Gold ist, wobei die Vorderseite die Kreuzigung Jesu und die Rückseite dessen Geburt zeigt. Außerdem sind vorne ringsum lateinische Worte eingraviert, die Böses vom Besitzer abhalten sollten. Die Rückseite zieren an gleicher Stelle die Bildnisse von fünfzehn Heiligen, vermutlich auch das des Heiligen Nikolaus. Der Knüller ist der große Saphir, der 10 Karat wiegt. Außerdem kann das Juwel wie ein Medaillon geöffnet werden und es gilt als sicher, dass es eine Reliquie barg. Möglicherweise waren um das rautenförmige Schmuckstück auch noch Perlen in regelmäßigem Abstand befestigt.Es gilt in England als das wertvollste erhaltene Juwel aus dieser Zeit. Ich zeige im Anschluss Bilder vom Original und von einem Nachbau mit erwähnten Perlen.

http://www.english-heritage.org.uk/content/images/story-england/late-medieval/mid-jewel-thumb-two Original

http://www.danegeld.co.uk/USERIMAGES/middleham.jpg Nachbau

Die im Text noch erwähnten Personen Mad Harry, Edward of Lancaster und dessen Mutter Marquerite (und Frau von Mad Harry) sind diese:

https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_VI._%28England%29

https://de.wikipedia.org/wiki/Edward_of_Westminster

https://de.wikipedia.org/wiki/Margarete_von_Anjou 

Kapitel 5 by doris anglophil
Author's Notes:

 

Mit dem Ausklang des Jahres 2015 geht auch diese Kurzgeschichte zu Ende. Ich wünsche an dieser Stelle vor allem eines:

Bild

Zum Kapitel: Weihnachten bedeutete damals weniger, dass man Geschenke machte, sondern eher, dass es sehr viele Festivitäten gab, vor allem Musik, Spiel, Tanz und Theater. Selbstverständlich gab es auch noch keinen Weihnachtsbaum. Man versammelte meist viele Gäste um sich, bewirtete und unterhielt diese aufs Trefflichste. Dazwischen hörte man die Messe und gedachte - natürlich - der Geburt Jesu. Richard mochte das, es ist bekannt, dass er extra Musiker für solche Ereignisse anheuerte und auch gut bezahlte, aber es blieb stets alles in einem bescheidenen, überschaubaren Rahmen.
Das Kapitel geht darauf kurz ein, ist aber mehr dem Ausblick auf die Zukunft gewidmet, was auch schon durch den Spruch zu Anfang definiert wird. Die Kinder von Richard dem Dritten, die er alle wohl sehr liebte und dementsprechend umsorgte, nachweislich verbrachten auch die vorehelich geborenen beiden viel Zeit auf Middleham Castle, spielen im Schlusskapitel eine wichtige Rolle. 

 

Richte dich nicht ein,

als solltest du hundert Jahre alt werden.

Denn wie nahe ist vielleicht dein Ende!

Aber solange du lebst,

solange es in deiner Macht steht - ­sei gut!

(Selbstbetrachtungen, Marc Aurel)

25. Dezember 1473

Während in London am Hof von König Edward dem Vierten das Fest der Geburt Christi mit Banketten, Musik, Tanz und Spiel gefeiert wurde, ging es in Yorkshire auf Burg Middleham deutlich leiser und weniger prunkvoll zu. Der Duke of Gloucester war zwar kein armer Mann, weit gefehlt, doch seine Barschaft war dennoch gering. Auch er hatte Musiker angeheuert, die während und nach den Mahlzeiten aufspielten. Die Speisen an diesen hohen Festtagen waren gegenüber dem sonst Üblichen schon deutlich aufgewertet, aber von Opulenz konnte wahrlich keine Rede sein. Alles in allem beging man hier das Weihnachtsfest sehr viel ruhiger und besinnlicher als im Palast von Westminster.

Am Vortag waren die beiden anderen Kinder Richards, der vierjährige John of Pontefract und die dreijährige Katherine Plantagenet, angekommen. Leider war das alles andere als glatt abgelaufen, denn die kleine Katherine weinte ständig, wohl weil sie ihre Mutter vermisste und vielleicht auch noch ein bisschen zu jung war, um ihre gewohnte Umgebung zu verlassen und von nun an bei fast fremden Leuten untergebracht zu werden. Anne und auch die Amme von Edward mühten sich ab, dem weinenden Kleinkind wenigsten etwas Trost zu spenden, doch Katherine war kaum zu beruhigen. John war das genaue Gegenteil seiner Halbschwester, er saß nur stumm da und beobachtete alles, sagte aber nur etwas, wenn er direkt angesprochen und gefragt wurde.

Das stellte sogar Richards engelsgleiche Geduld und liebevolle Art im Umgang mit Kindern hart auf die Probe. Er hatte sowohl John als auch Katherine nur immer kurz bei Besuchen gesehen und gesprochen, weswegen er zunächst fremd auf sie wirkte. Allerdings hatte er bei diesen Besuchen niemals Weinerlichkeit oder Trotzigkeit bemerkt, was ihn jetzt umso mehr überraschte. Zwar weinte sein Sohn mit Anne, Edward, auch, doch dieser ließ sich sofort beruhigen, wenn man ihn säuberte und ihm frische Sachen anzog oder ihm die Brust reichte. Einen Säugling wie ihn konnte man schwerlich mit seinen beiden Halbgeschwistern, die naturgemäß schon sprechen und laufen konnten, vergleichen. Es endete damit, dass Richard fast den ganzen Tag über die kleine Katherine auf dem Arm tragen musste, um ihrem Weinen halbwegs Herr zu werden, was dazu führte, dass sein Rücken höllisch schmerzte.

Am Abend wollte sie nicht in ihr Bett, das sie mit John teilen sollte, damit keiner von beiden sich allein gelassen fühlte, und Richard musste sein Töchterlein notgedrungen mit ins Ehebett nehmen. Dort schlief sie endlich, an den warmen Körper ihres Vaters gekuschelt, vor lauter Erschöpfung ein. John hingegen verharrte tapfer allein im Bett, auch wenn er mit Sicherheit ebenfalls sehr gern in seines Vaters Bett geschlafen hätte. Doch der Junge gab sich diese Blöße nicht. Er ahnte welche Bedeutung es hatte, dass er nun bei seinem Vater leben durfte und er fühlte sich gegenüber Katherine, die er insgeheim eine Heulsuse nannte, als der Überlegene. Dennoch wurmte es ihn, dass sie es durch ihre Heulerei fertiggebracht hatte, mit ins herrschaftliche Bett genommen zu werden, während er allein im Bett lag. Aufgrund dieser Gedanken überkam eine leichte Unzufriedenheit den Jungen und so vergoss auch er, wenn auch unbemerkt, ein paar Tränen bis er endlich eingeschlafen war.

Anne und Richard präsidierten über dem Weihnachtsbankett, das reichlich und gut ausfiel, aber bei weitem nicht mit dem am Königshof verglichen werden konnte. Auch die Kinder durften bei dieser Gelegenheit für einen Gang mit am Tisch sitzen, der kleine Edward lag in einer Wiege dicht dabei. John fühlte sich sehr wichtig, selbst Katherine weinte nicht, weil sie ein schönes neues Kleid trug und sich im Zentrum der Aufmerksamkeit befand. Alle bemühten sich, sie zu verwöhnen, weil sie am Vortag so sehr geweint hatte. Anne fand es übertrieben und fürchtete, das kleine Mädchen könne sich an die Schmeicheleien, die übersteigerte Fürsorglichkeit und das Hofieren gewöhnen.

Sie sprach Richard darauf an: „Denkst du nicht, es ist zu viel des Betuns für Katherine? Ich fürchte, sie wird sich daran gewöhnen und es immer so haben wollen. Herumgetragen werden, bei uns im Bett schlafen, von den Leuten verhätschelt werden... verstehe mich nicht falsch, es ist nicht, weil sie nicht auch mein Kind ist, aber ich möchte Problemen vorbeugen."

„Ich verstehe es nicht falsch. Mir sind ähnliche Gedanken auch schon durch den Kopf gegangen. Ich werde noch mehr Geduld aufbringen müssen und sie zunächst dazu bringen, im Bett mit John zu schlafen. Und das nicht alle Tage Weihnachten ist, werden die Kinder ohnehin sehr schnell merken. Ich hoffe, es sind nur Eingewöhnungsschwierigkeiten. Natürlich möchte ich kein verwöhntes Gör heranziehen. Wir brauchen Geduld und müssen zusammenstehen, vor allem, wenn wir später noch mehr eigene Kinder haben werden. Ich glaube, Eltern zu sein, ist eine der größte Herausforderungen, die Gott uns auferlegt, doch dieser Herausforderung werden wir uns stellen, nicht wahr, liebste Anne?"

Sie nickte und schob unterm Tisch ihre Hand in die seine, um diese unbemerkt von den Gästen liebevoll und anerkennend zu drücken.

Dieses Weihnachtsfest im Jahr 1473 war eines der ruhigsten, friedlichsten und schönsten im Leben von Richard Plantagenet, damals noch Duke of Gloucester. Er ahnte nicht, dass er keine weiteren Kinder mit Anne haben würde. Er ahnte auch nicht, dass ihm kaum noch solche schönen, friedvollen Weihnachtsfeste beschieden sein würden. Zwei Jahre später war Richard über den gekauften Frieden mit Frankreich so erzürnt, dass er zu Weihnachten noch immer kaum Kontakt zu Edward hatte. Ein weiteres Jahr später, 1476, ereilte die Familie drei Tage vor Weihnachten mit dem Tod von Isabel, Duchess of Clarence, eine so große Katastrophe, dass diese den Niedergang von Richards und Edwards Bruder George einläutete. Im Jahr 1477 saß George zu Weihnachten bereits im Tower wegen Hochverrats ein. Auch ein Jahr danach war Richard nur wenig nach Feiern zumute, weil George im Februar 1478 hingerichtet wurde.

Und er ahnte am Christfest 1473 garantiert nicht, dass er zehn Jahre später König von England sein würde und seine Weihnachtsfeste im Palast von Westminster würde abhalten müssen; schon gar nicht ahnte er, dass er nur zwei Weihnachten als König erleben und er keine zwölf Jahre mehr leben würde, von seinen schweren Verlusten von Sohn Edward und Gemahlin Anne gar nicht erst zu reden.

Wie gut war es doch, dass Gott einem die Gabe der Voraussicht nicht gewährt hat, denn so war es Richard in diesen Tagen im Dezember 1473 möglich, ein wundervolles, alles in allem sehr besinnliches Fest auf seiner geliebten Burg Middleham, im geliebten Yorkshire, mit seinen Allerliebsten versammelt um ihn, zu begehen. Selten zuvor und kaum danach hatte er sich so wohl, geliebt und angenommen gefühlt...

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